Mit 2024 geht für Schaffhausen ein Jahr mit Wahlen, Wahlen und noch mehr Wahlen zu Ende. Zeit, mit jenen zu sprechen, an denen das alles vorbeigezogen ist: den Nichtwählern.

Autor: Julian Blatter
Titelbild: Viele entscheiden sich gegen das Wählen. Warum? Bildquelle: Julian Blatter

An einem Thema kamen die Schaffhauserinnen und Schaffhauser dieses Jahr kaum vorbei: Wahlen. An jeder zweiten Strassenecke lächelten die Politikerinnen und Politiker von den Plakaten, Flyer der Parteien fluteten regelmässig die Briefkästen. Schliesslich wollten fünf Regierungsräte, 60 Kantonsräte, plus die Regierungen und Parlamente der Gemeinden sowie kleinere Gremien wie Schulräte oder Feuerwehrkommissionen gewählt werden.

Dementsprechend dominant war die Politik in den Schlagzeilen der regionalen Medien. Wenig Gehör fanden hingegen die Leute, die mit dem Ganzen nur wenig am Hut haben: die Nichtwähler. Dabei gibt es von ihnen eine ganze Menge, rund 46 Prozent der wahlberechtigten Schaffhauserinnen und Schaffhauser haben bei der Kantonsratswahl im vergangenen September keinen Wahlzettel in die Urne geworfen.

Linda Weber ist eine von ihnen. Danach gefragt, ob sie dieses Jahr an einer der vielen Wahlen teilgenommen habe, muss Weber erst überlegen. Bei der Gemeindepräsidentenwahl, bei der habe sie abgestimmt, «glaubs». Sonst nicht. «Meistens sind die Wahlen an mir vorbeigezogen», sagt die 19-jährige Thayngerin.

Genau zu erörtern, woher das Desinteresse kommt, fällt Weber schwer. Sie wisse, dass Wahlen wichtig seien, empfinde es aber nicht so. «Ich sehe das Couvert zu Hause und denke: ‹Oh, ich muss noch wählen.› Und dann vergesse ich es wieder.»

Teils sei es aber auch schwer, sich zu informieren, erklärt Weber. «Bei der Schulpräsidentenwahl wollte ich wählen, aber habe dann nicht herausgefunden, wer alles gewählt werden kann. Und dann wurde mir das zu blöd.»

Einer der Gründe, warum Menschen nicht wählen gehen, ist, dass sie die Kandidatinnen und Kandidaten zu schlecht kennen. Aber betrifft das wirklich nur Nichtwähler? Wir haben dort nachgefragt, wo man die Politikerinnen und Politiker aus der Region eigentlich kennen müsste: bei den Redaktorinnen und Redaktoren der «Schaffhauser Nachrichten». Nach einem Jahr unzähliger Artikel über die Regionalpolitik müssten sie mit den Gesichtern aus der Regionalpolitik vertraut sein. Oder?

Das sind die Nichtwähler – und ihre Gründe

So wie Weber geht es vielen. In einer Analyse des Schweizer Kompetenzzentrums für Sozialwissenschaften (Fors) zu den Eidgenössischen Wahlen 2023 gaben 31 Prozent der Nichtwähler an, der Wahl ferngeblieben zu sein, weil sie die Kandidierenden zu wenig gekannt hätten. Es ist der meist genannte Grund fürs Nichtwählen. Dahinter folgen fehlendes Interesse für Politik mit 30 Prozent und mit jeweils 21 Prozent, dass Wahlen zu kompliziert seien, sowie, dass keine Partei überzeugt hätte.

Aus der Fors-Studie lässt sich nicht nur herauslesen, was die Nichtwähler antreibt, sondern auch, wer sie sind. In drei ausgewählten Kantonen hat das Institut die Wahlbeteiligung Merkmalen wie Alter, Bildungsgrad oder Einkommen zugeordnet. Hier die wichtigsten Zahlen im Überblick:

  • Bei den eidgenössischen Wahlen 2023 fanden sich in der politischen Mitte (57 %) mehr Nichtwähler als im linken (41 %) oder rechten Lager (45 %). Visualisierung: Julian Blatter, Daten: Fors

Es gibt aber noch andere Gründe fürs Nichtwählen, wie Daniel Kübler, Professor am Institut für Politikwissenschaften der Universität Zürich und Leiter der Abteilung Allgemeine Demokratieforschung am Zentrum für Demokratie Aarau, weiss. «Die Wahlbeteiligung steigt, wenn die Regierungszusammensetzung offen ist», sagt Kübler. In der Schweiz sei das so gut wie nie der Fall. «Seit 1959 sind immer die gleichen Parteien im Bundesrat», entsprechend tief sei auch die Wahlbeteiligung.

In Ländern wie Deutschland, wo sich bei jeder Wahl die Frage stellt, welche Partei in die Regierung kommt, sei das anders. Hinzu kommt, dass die Schweizer Stimmbürger durch Abstimmungen regelmässig Einfluss auf die Politik nehmen können. «In der Schweiz geht es bei Wahlen nicht so um die Wurst wie in Ländern, wo die Wähler nur alle vier Jahre ihrer Stimme Ausdruck verleihen können», sagt Kübler.

Schwache Stimmbeteiligung heute – starke Stimmbeteiligung morgen

Apropos Abstimmungen: Bei nationalen Vorlagen liegt die durchschnittliche Stimmbeteiligung öfter unter 50 Prozent. Im Jahr 2024 waren es rund 47 Prozent. Das heisst laut Kübler aber nicht, dass die Mehrheit der Wähler gar nie abstimmt. «Untersuchungen zeigen, dass innerhalb einer Legislaturperiode rund 80 Prozent an mindestens einer Abstimmung teilnehmen.»

Ob die Menschen an einer Abstimmung teilnehmen oder nicht, hänge stark vom Thema ab. Kübler verweist auf die Referenden zum Covid-Gesetz, die aussergewöhnlich viele Menschen an die Urnen trieben. «Die Leute kommen, wenn sie das Gefühl haben, dass es um etwas Wichtiges geht.»

Ein Nichtwähler, der keiner sein will

Nichtsdestotrotz gibt es Personen, die nie abstimmen. Die, die nicht dürfen – Ausländer, Minderjährige und «wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigte» Schweizer, so steht es in der Bundesverfassung.

Gemäss den Zahlen des Bundesamts für Statistik durften bei den vergangenen Eidgenössischen Wahlen rund 38 Prozent der Schweizer Bevölkerung keine Stimme abgeben. Im Kanton Schaffhausen waren es etwa 41 Prozent.

Fabian Babic gehört zu diesen 41 Prozent. Der 28-jährige Kroate aus Schaffhausen beschäftigt sich viel mit Politik, seinen Politikkonsum beschreibt er scherzhaft als «ungesund hoch». Er würde gerne wählen, darf aber nicht. Er sei für eine Ausweitung des Stimm- und Wahlrechts auf die ausländische Bevölkerung. «Nichts spricht dafür, dass es eine liberale Demokratie schwächen würde, wenn wir mehr Leute mitmachen lassen.»

Dies müsse man aber vorsichtig angehen. «Wir brauchen einen Konsens darüber, wie sehr man sich fürs Wohl des Landes interessieren muss, um partizipieren zu dürfen. Es gibt Ausländer, die seit 20, 30 Jahren in der Schweiz leben, aber kaum Deutsch sprechen können. Da ist es schwierig, wenn wir Menschen das Wahlrecht geben würden, die gar nicht verstehen, um was es geht.» Babic würde sich aber freuen, wenn es künftig hiesse: «Hey, du bist super integriert, du darfst wählen». Aber das müsse das Stimmvolk entscheiden.

Auch Politikwissenschaftler Kübler würde ein Ausländerstimmrecht begrüssen. «Es gibt kaum ein anderes Land, in dem der Anteil der Wahlberechtigten an der erwachsenen Bevölkerung so klein ist wie in der Schweiz.» Zwar gebe es gewisse Kantone und Gemeinden, die Ausländern das Stimm- und Wahlrecht erteilt haben. Anderswo gebe es dafür aber keine politische Mehrheit. «Das ist durchaus zu bedauern.»

Stimmpflicht: Sinnvoll oder überholt?

Der Kanton Schaffhausen erfreut sich im Schweizer Vergleich über hohe Werte bei der Stimmbeteiligung. Regelmässig liegt diese in Schaffhausen 15, 20 Prozent höher als im Schweizer Schnitt.



Der Grund: In Schaffhausen ist Wählen und Abstimmen kein Privileg, sondern eine Pflicht. «Die Teilnahme an den eidgenössischen, kantonalen und Gemeindeabstimmungen und Wahlen sowie an den Gemeindeversammlungen ist bis zum 65. Altersjahr obligatorisch», heisst es im Schaffhauser Wahlgesetz. Wer einen Abstimmungssonntag verpasst, zahlt sechs Franken Busse. Kein anderer Kanton kennt ein ähnliches System.

«Ein zweischneidiges Schwert»

Haltungen zur Stimmpflicht gibt es viele. Für manche hat diese keinen Einfluss auf ihr Wahlverhalten. Nichtwählerin Linda Weber sagt etwa: «Irgendwann wurde mir das egal.» Andere denken, dass sich mit einem noch höheren Betrag die Wahlbeteiligung weiter erhöhen liesse. Und wieder andere denken, dass die Stimmpflicht gar keinen wirklichen Einfluss hat. So sagte der Schaffhauser Stadtrat Raphaël Rohner gegenüber «SRF»: «Wir haben eine Gesellschaft, die seit Jahrzehnten sehr engagiert ist, Haltungen entwickelt und diese im politischen Prozess einbringt.»

Was stimmt nun also? Eine Stimmpflicht sei «ein zweischneidiges Schwert», sagt Politikwissenschaftler Daniel Kübler. Die Frage sei, ob eine höhere Wahlbeteiligung auch eine höhere Qualität der Wahlentscheidung bedeute. «In Schaffhausen ist der Anteil an Leerstimmen durchs Band höher als im Rest der Schweiz. Das deutet darauf hin, dass Leute, die nicht wissen, was sie abstimmen sollen, ihre Stimme leer eingeben.»

Eine Stimmpflicht kann aber durchaus auch Einfluss auf ein Ergebnis haben. In Ländern wie Australien könne man beobachten, dass Wähler, die sich mit einer Vorlage nicht auseinandersetzen, vermehrt Nein stimmen würden, so Kübler. In dem Land gibt es sogar ein Sprichwort dafür: «If you don’t know, vote no.» (Wenn du es nicht weisst, dann stimme Nein.) «Die Gefahr ist, dass wir Leute an die Urne bringen, die sich nicht auskennen, und deshalb dem Status Quo den Vorzug geben», sagt Kübler. Das führe dazu, dass es deutlich mehr Ja-Stimmen als Nein-Stimmen brauche, damit eine Vorlage erfolgreich ist.

Küblers kommt zu dem Schluss: «Es gibt ein dafür und ein dawider. In Australien ist die Strafe etwas höher, in Schaffhausen tun die sechs Franken niemandem weh.» Ausserdem lassen sich Versäumnisse relativ leicht entschuldigen. Neben krankheits- und unfallbedingen Abwesenheiten lässt sich das Fernbleiben an der Urne auch wegen Ferienabwesenheit, beruflichen oder familiären Verpflichtungen sowie Militär- und Zivilschutzdienst entschuldigen. Und auch andere Entschuldigungsgründe werden vom Schaffhauser Wahlgesetz nicht ausgeschlossen, dann entscheidet allerdings der Gemeinderat. «Das ist eher ein moralischer Stupser», so Kübler.

Diesen «moralischen Stupser» spürt auch Weber. Ihr zeigt die Wahlbusse, dass ihre Stimme eigentlich schon wichtig gewesen wäre. «Sechs Stutz sind sechs Stutz, stolz bin ich nicht drauf.» Auf was Sie nicht stolz ist? «Auf mein fehlendes Engagement.»