Autor: Kim Ariffin

Titelbild: Suad Dahir (links), Simone Leuenberger (Mitte), Peter Ladner (rechts). Collage von Kim Ariffin zusammengestellt. Quelle: Bild in der Mitte und Hintergrund von Kim Ariffin, linkes und rechtes Bild zur Verfügung gestellt

In der Schweiz sind Menschen mit Behinderungen immer noch in vielen Lebensbereichen benachteiligt. Die Inklusionsinitiative will dies ändern. Peter Ladner ist Mitglied des Initiativkomitees und hat selbst eine kognitive Beeinträchtigung. Im Gespräch erzählt er von seinen Erfahrungen im Alltag und vom Ziel der Initiative.

«Ich benötige manchmal mehr Zeit, bis ich etwas verstanden oder verarbeitet habe.» Das sagt Peter Ladner, der von einer kognitiven Beeinträchtigung betroffen ist. Er spricht sehr offen über die Herausforderungen, die dadurch in seinem Alltag entstehen. Wenn er einen Arbeitsprozess noch nicht kenne, brauche Ladner etwas länger, um sich daran zu gewöhnen. Jedoch behalte er viele Dinge in seinem Gedächtnis und könne sich gut anpassen, wenn er wisse, wie der jeweilige Arbeitsablauf aussieht.

Ladner ist 56 Jahre alt und wohnt in der Stadt St. Gallen. Im Alter von 28 bis 30 Jahren absolvierte er eine Anlehre als Schreiner. Dies war damals seine Zweitausbildung, denn zuvor hatte er bereits eine Anlehre als Gärtner abgeschlossen. Über 20 Jahre lang arbeitete er als Schreiner bei der geschützten Werkstatt «Dreischiibe» in Herisau. Dort stellte Ladner unter anderem sogenannte Imkermagazine her – aus Holz gefertigte Nisthöhlen für Honigbienen.

Die Inklusionsinitiative will Menschen mit Behinderungen Folgendes ermöglichen (von links nach rechts): Freie Wahl des Wohnorts und der Wohnform, mehr Assistenzleistungen, Gleichstellung in der Politik. Quelle: Alle drei Bilder wurden mit der KI „Stable Diffusion“ generiert.

Politisch aktiv und an Forschungsprojekten beteiligt

Aktuell ist Ladner an verschiedenen Forschungsprojekten an der Fachhochschule OST in St. Gallen beteiligt, die das Thema Inklusion behandeln. Zudem ist er Mitglied des Komitees der neuen Inklusionsinitiative, die mehr Gleichberichtigung für Menschen mit Behinderungen fordert. Auf die Idee, sich politisch zu engagieren, kam Ladner durch seine Zusammenarbeit mit der Organisation Pro Infirmis, wo er im Ausschuss «Inklusion und Partizipation» tätig ist. Ladner sagt: «Ich wurde von Pro Infirmis angefragt, ob ich bei der Initiative mitmachen will, und habe mich dann dafür bereitgestellt.»

Laut dem Initiativkomitee leben in der Schweiz rund 1,7 Millionen Menschen mit Behinderungen. Bis heute seien sie jedoch in vielen Bereichen des Alltags ausgeschlossen und würden Diskriminierung erleben. Die Inklusionsinitiative soll dagegen vorgehen. Ihre zentralen Forderungen lauten, dass Menschen mit Behinderungen die freie Wahl ihres Wohnortes und ihrer Wohnform gewährleistet wird und sie mehr Assistenzleistungen erhalten. Am 5. September dieses Jahres hat die Trägerschaft der Initiative rund 108’000 gesammelte Unterschriften bei der Bundeskanzlei in Bern eingereicht. Im Verlaufe des Dezembers wird nun der Bundesrat eine Stellungnahme zur Initiative in Form eines Aussprachepapiers abgeben. Die Volksabstimmung über die Inklusionsinitiative wird voraussichtlich zwischen 2026 und 2028 stattfinden.

Auch Simone Leuenberger engagiert sich für die Inklusionsinitiative. Sie ist 49 Jahre alt, wohnt in einer Wohngenossenschaft (WG) in der Nähe von Bern und hat eine Muskelbehinderung. Leuenberger ist gleichzeitig in drei Arbeitsbereichen tätig: Sie ist seit zwei Jahren EVP-Grossrätin im Kanton Bern, arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Lehrerin für Wirtschaft und Recht in einem Gymnasium und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Assistenz bei Agile in Bern, einer Selbsthilfeorganisation für Menschen mit Behinderungen. Im Video erklärt sie, ob die Inklusionsinitiative beim Bundesrat gute Chancen hat oder nicht.

150’000 Menschen mit Behinderungen wohnen in Institutionen

Peter Ladner lebt in einer Wohnung der Wohngenossenschaft Domum. Seine Ehefrau wohnt ebenfalls dort, jedoch in einer separaten Wohnung. Ladner sagt: «Eine eigene Wohnung zu haben ist für mich kein Problem. Ich bekomme Unterstützung, aber ansonsten funktioniert alles relativ gut.» Die Situation sieht bei vielen Betroffenen jedoch anders aus – besonders bei Personen, die stärkere Beeinträchtigungen haben als Ladner. Gemäss der Website der Inklusionsinitiative wird vielen Menschen mit Behinderungen bis heute noch keine Wahlfreiheit bei der Wohnungssuche gewährleistet, weswegen sie oft in Heimen leben müssen. So wohnen in der Schweiz rund 150’000 Betroffene in einer Institution. «Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen werden fast dazu genötigt, in ein Heim zu gehen», fügt Ladner an. Aus diesen Gründen lautet eine zentrale Forderung der Inklusionsinitiative, dass Menschen mit Behinderungen ihren Wohnort und ihre Wohnform frei wählen können.

Zudem fordert das Initiativkomitee, dass Menschen mit Behinderungen mehr Assistenzleistungen erhalten sollen. Wie auf der Website der Inklusionsinitiative erläutert wird, könnten sich zum Beispiel Menschen mit einer Sprechbehinderung im heutigen System nicht die benötigte Verbalassistenz leisten, um ihre Arbeit zu erledigen. Auch gehörlose Personen, die sich politisch engagieren möchten, würden eigentlich immer eine Gebärdendolmetscherin oder einen Gebärdendolmetscher benötigen. Jedoch sei diese Assistenzleistung ebenfalls nicht im aktuellen System vorgesehen. Hinzu komme, dass politische und öffentliche Informationen zur Meinungsbildung im politischen Prozess oft nicht in Gebärdensprache übersetzt würden. Auch ist momentan noch keine Assistenz für kognitiv beeinträchtigte Personen vorgesehen, die sich in der Gesellschaft engagieren wollen und in der Arbeitswelt tätig sein möchten.

Suad Dahir ist ein weiteres Komiteemitglied der Inklusionsinitiative. Die 31-Jährige ist von verschiedenen psychischen Beeinträchtigungen betroffen: Von einer Schizophrenie, von Depressionen, von einer Lernschwäche und von einer posttraumatischen Belastungsstörung. Wegen diesen Beeinträchtigungen erhält sie Medikamente und kann Therapien besuchen. Momentan wohnt Dahir in einer Eineinhalb-Zimmer-Wohnung in Schlieren – diese Form des Wohnens nennt sich Teilbetreuung. Welchen Herausforderungen sie aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigungen im Alltag begegnet, erzählt sie im Audio-Beitrag.

Gesellschaft soll über Inklusion aufgeklärt werden

Im Rahmen der Behindertenpolitik 2023-2026 schlägt der Bundesrat eine Teilrevision des Behindertengleichstellungsgesetzes (BehiG) vor. Laut der Website der Inklusionsinitiative ignoriert diese Revision jedoch die bereits genannten zentralen Anliegen der Initiative, nämlich die Gewährleistung von selbstbestimmtem Wohnen und persönliche Assistenzleistungen. Aus diesem Grund hat der Verein für inklusive Schweiz am 12. November eine Stellungnahme gegen die BehiG-Reform veröffentlicht. Am 3. Dezember hat der Verein im Bundesparlament in Bern einen Appell gegen die Vorlage eingereicht.

Im grossen Ganzen findet es Peter Ladner wichtig, die Gesellschaft für das Thema Inklusion zu sensibilisieren und darüber aufzuklären. Vor allem, weil gewisse Beeinträchtigungen nicht optisch erkennbar sind. Er sagt: «Etwas, das man nicht sieht, kann man sich nicht gut vorstellen. Darum muss man die Leute abholen und ihnen erklären, um welche Beeinträchtigung es sich jeweils handelt.» Bei der Aufklärung über das Thema müsse man zudem darauf achten, dass kein Gegeneinander entsteht. «Separation sollte es nicht geben, sondern Inklusion. Dies bedeutet, dass alle miteinander zusammenhalten», fügt Ladner an.

In der Schweiz sind ältere Personen am häufigsten von Behinderungen oder Einschränkungen betroffen.