Jedes Jahr verlassen über tausend Tessiner:innen ihr Elternhaus, um nach Zürich zu ziehen. Sie sind jung, sprechen kaum Deutsch und bleiben unter sich.

Autorin: Aline Schmassmann
Titelbild: Die Tessiner Studierenden in Zürich pflegen den Zusammenhalt durch regelmässige Treffen – sei es bei Abendessen, Partys oder gemeinsamen Bowling-Abenden. Bildquelle: Aline Schmassmann

19 Jahre jung, gerade noch die Hand des Rektors geschüttelt und das Maturazeugnis in Empfang genommen und schon heisst es: Koffer packen, ausziehen. Im Tessin studieren und im Heimatkanton bleiben, kommt für die wenigsten Maturand:innen infrage. Zumindest, wenn sie an einer Universität studieren möchten. Auch dieses Jahr haben wieder knapp 85 % der Tessiner Uni-Studierenden ihren Heimatkanton verlassen.

Der Grund? «Mein Studium ‹Bauingenieurwissenschaften› gibt es nicht im Tessin. Ich musste weg», erzählt Noah El Hassanie, 23-jähriger Tessiner und ETH-Student. Auch Ginevra Macchi schliesst sich an. Die 24-Jährige wollte Kunstgeschichte studieren, hierfür kam auch sie nach dem Abitur direkt nach Zürich. Die Universität und ETH Zürich sind beliebte Destinationen für die Tessiner:innen. Mit den beiden Hochschulen und mehr als 1700 eingeschriebenen Tessiner:innen hält Zürich die schweizweit höchste Anzahl an Tessiner Uni-Studierenden.

Keine Karriere im Tessin

Dabei hat auch die italienische Schweiz ihre eigene Universität. Die Università della Svizzera italiana (USI) bietet sogar zunehmend mehr Studiengänge an: Wirtschaft, Medizin, Architektur, Philosophie und noch einige mehr – es sind insgesamt acht Bachelorstudiengänge und über 30 Masterstudiengänge. Und doch, die Abwanderung bleibt.

  • Seit 1996 hat auch das Tessin seine eigene staatliche Universität: die Università di Svizzera italiana (USI). – Aline Schmassmann

«Zürich hat die besten Universitäten», erklärt Macchi. Die USI wächst erst neuerdings, die meisten der Studiengänge sind noch sehr frisch. Kurz gesagt: Selbst, wenn die USI das gewünschte Studium anbietet, so ist die Ausbildung noch wenig renommiert. Und für die grössere Auswahl und den besseren Abschluss verlasse man dann dennoch das Tessin, so Macchi. Das Studium in einer fremden Sprache sei herausfordernd, aber für die guten Karrierechancen nehme man die Herausforderung gerne an.

Seit 1988 in Zürich

Macchi und El Hassanie gehen mit ihrer Abwanderung über den Gotthard keine neuen Wege. Bereits seit Jahrzehnten verlassen Tessiner Studierende ihren Heimatkanton für Zürich. Dies zeigt auch das Gründungsjahr 1988 der Assoziazione di Studenti Ticinesi a Zurigo (ASTAZ) – dem Verein für Tessiner Studierende in Zürich. Seit fast 40 Jahren finden sich die Tessiner Studierenden in dem Verein und geben sich Halt. Die ASTAZ bringt alle Tessiner:innen zusammen, unterstützt bei organisatorischen Fragen und veranstaltet regelmässige Events wie gemeinsame Nachtessen, Bowling oder die – in Studierendenkreisen berühmt-berüchtigten – Tessiner Feste.

Die ASTAZ organisiert regelmässig Feste für die Tessiner:innen in Zürich. – Astaz.ch

«Wir sind aktuell etwa 1500 Mitglieder», sagt Lia Gutknecht, Präsidentin der ASTAZ – und ja, tatsächlich, bei den famosen Tessiner Festen kämen jeweils gut tausend Tessiner:innen zusammen. Der starke Zusammenhalt der Tessiner:innen zeigt sich aber nicht nur in Zürich. Auch in zehn weiteren Kantonen wie Basel-Stadt, Genf oder Luzern finden sich noch viele weitere Tessiner Vereine.

Ein Gefühl von Heimat

Tausende Tessiner:innen ausserhalb vom Tessin und zwei Dutzend Vereine für den Zusammenhalt. Doch wie geht es den jungen Tessiner:innen in Zürich? Die Mitglieder der ASTAZ berichten über ihre Erfahrungen.

«Sich zu Hause fühlen, auch wenn man nicht zu Hause ist», fasst ASTAZ-Präsidentin Gutknecht den Vereinszweck zusammen. Und tatsächlich, den Tessiner:innen scheint es gutzugehen. Ob sie sich in Zürich je allein gefühlt hätten? Die Antwort kommt als kollektives Nein. Man würde sich schliesslich sofort finden. «In der ersten Studienwoche gibt es immer einen Apéro von der ASTAZ», erzählt Tessiner Manolo Pinösch, «von da an hast du deine Kolleginnen und Kollegen».

«Viele trauen sich nicht»

Der Vorstand der ASTAZ, u.a. mit Simona Gamboni (unten, 2. v. l.), Lia Gutknecht (unten, 3. v. l.) und Manolo Pinösch (unten, rechts außen).
– Instagram / @a.s.t.a.z.

Und Freundschaften ausserhalb der italienischsprachigen Bubble? Das sei tatsächlich nicht immer leicht, sagt Vereinspräsidentin Gutknecht – insbesondere wegen der Sprache. «Im Tessin lernen wir Hochdeutsch», führt Gutknecht aus, «und dann kommst du nach Zürich und plötzlich reden alle Schweizerdeutsch». Es sei wirklich nicht zu unterschätzen: «Schweizerdeutsch ist eine eigene Sprache».

Gutknecht ist bilingue aufgewachsen und antwortet in einwandfreiem Züri-Dütsch. Für all ihre Kolleg:innen, welche kein Schweizerdeutsch beherrschen, sei die Integration bedeutend schwieriger. Dadurch stelle sich die Hürde für den Beziehungsaufbau bereits bei der ersten Kontaktaufnahme. Denn: Die Tessiner:innen müssten für neue Freundschaften aktiv auf ihre deutschsprachigen Kommiliton:innen zugehen und diese auf einer Fremdsprache ansprechen. «Das braucht Mut und Überwindung, viele trauen sich nicht.»

Gleichzeitig ist Gutknecht bewusst, dass umgekehrt auch die Kontaktaufnahme zu den Tessiner:innen schwierig sei. In der Regel fänden sich die Tessiner:innen bereits während der ersten Studienwoche und würden dadurch relativ rasch zu der «eingeschweissten und italienischsprachigen Freundesgruppe» im Vorlesungssaal. So würden sich auch viele Zürcher:innen nicht trauen, die Tessiner:innen anzusprechen. Die Sprachbarriere erschwere wirklich vieles, der spontane erste Austausch fehle.

Hast Du Tessiner:innen in Deinem Freundeskreis?
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Gutknecht, Macchi, El Hassanie und Pinösch, sie alle sprechen Schweizerdeutsch oder Hochdeutsch und sie alle haben von ihren Erfahrungen erzählt. Alle vier geben an, auch Deutschschweizer Freund:innen gefunden zu haben. Sie leben gerne in Zürich und fühlen sich gut integriert. Unerschlossen bleiben allerdings die persönlichen Erfahrungen jener jungen Tessiner:innen, welche keine Auskunft geben wollten. Sie hatten Hemmungen, auf Deutsch oder Englisch zu antworten und blieben unter sich.

Möchten Sie zurück ins Tessin? «Nein, niemals.»

Was die Mitglieder der ASTAZ gerade erst entdecken, das hat der Tessiner Student Tita Mühlemann bereits hinter sich. Im Interview und kurz vor seinem Masterabschluss blickt der 27-Jährige auf acht Jahre Deutschschweiz zurück.

Herr Mühlemann, die meisten Tessiner:innen gehen für ihr Studium nach Zürich oder Lausanne. Wieso Sie nicht?
Ich wollte damals noch Geschichte und Philosophie studieren, das gibt es in dieser Kombination nur in Basel. Sonst wäre ich nach Zürich gegangen. Wer für das Studium nicht nach Zürich zieht, hat konkrete Gründe. Na ja, oder geht in die Westschweiz. Aber mein Französisch war zu schlecht.

War es für Sie schon immer klar, dass sie nach dem Abitur wegziehen?
Ja, absolut. Die einzige Frage war, wo. Das Studienangebot im Tessin war erstens zu klein und ist zweitens zu teuer. Die Studiengebühren der Università della Svizzera italiana (USI) liegen bei 2000 Franken pro Semester! Das ist mehr, als ich jetzt an der HSG zahle.

Wie ging es Ihnen damit, Ihre Heimat verlassen zu müssen?
Ich habe mich gefreut, es war aufregend. Fast alle meiner Freund:innen haben das Tessin verlassen, da fällt der Abschied nicht schwer. Einzig meine Eltern hätten mich noch im Tessin gehalten, aber mit 19 Jahren freut man sich auch mal das Nest zu verlassen.

Waren Sie Mitglied eines Tessiner Studierendenvereins?
Ja, in Bern und in Basel. Auch jetzt bin ich im Tessiner Studierendenverein von St. Gallen.

Weshalb?
Wenn du neu in eine Stadt kommst, bist du zuerst etwas verloren. Ich wollte mir einen Sozialkreis aufbauen und das war der einfachste Weg. Ausserdem unterstützt dich der Verein bei der Wohnungssuche, die Mitglieder helfen dir mit den Prüfungen und so weiter. Wir schauen gut zueinander. Das Erste, was ein Tessiner macht, wenn er in eine neue Stadt kommt, ist sich in die Tessiner Facebook-Gruppe einzuschreiben. Danach geht es dann auch schnell in den Tessiner Verein.

War es einfacher, sich mit Tessiner:innen anzufreunden?
Absolut.

Weshalb?
Wir denken gleich, wir reden gleich, wir haben den gleichen Humor, die gleichen Wertevorstellungen. Es fühlt sich alles sehr natürlich an. Plus: Wir sind alle auf neue Freundschaften angewiesen. Zumindest, wenn wir frisch hochgekommen sind. Wir kennen niemanden. Nicht so wie die Deutschschweizer:innen. Sie haben ihr soziales Netz in der Regel bereits.

Mit den Deutschschweizer:innen fühlt es sich unnatürlich an?
Zu Beginn schon, ja. Und nicht nur wegen der Sprache. Ich sprach ja sogar einigermassen Schweizerdeutsch wegen meiner Mutter. Aber die Unterschiede liegen tiefer. Sie sind unterschwellig und verstecken sich in den sozialen Normen.

Inwiefern?
In der italienischen Kultur ist man direkter. Was in den italienischen Kreisen normal oder lustig ist, wird in der Deutschschweiz oft als unhöflich betrachtet. Wenn man das nicht weiss, eckt man immer wieder aus Versehen an.

Sie sind jetzt seit acht Jahren in der Deutschschweiz, fühlen Sie sich gut integriert?
Mittlerweile ja, hier in St. Gallen habe ich das erste Mal sogar hauptsächlich Deutsche und Deutschschweizer Freund:innen. Die Integration braucht einfach Zeit.

Was würden Sie Menschen raten, um sich an einem neuen Ort zu integrieren?
Nach Menschen mit gemeinsamen Interessen zu suchen. Man sollte sich überlegen, wofür man sich interessiert und dann einem entsprechenden Verein beitreten. Mir hat das sehr geholfen, ich war beispielsweise in einem Theaterverein. Aber man kann ja auch in einen Sportverein oder in den Schachklub gehen. Hauptsache, man kommt mit Menschen vor Ort in Kontakt, mit denen man etwas gemeinsam hat.

Gehen Sie nach Ihrem Abschluss wieder ins Tessin?
Nein, niemals.

Weshalb?
Mir gefällt die Deutschschweiz. Sie ist weltoffener, es gibt viel mehr kulturelle Angebote. Auch meine politischen Werte sind hier deutlich besser vertreten.
Wann immer ich wieder runtergehe, fühle ich mich auch nicht mehr ganz am richtigen Ort. Ich habe mich verändert. Tessin und Deutschschweiz – man ist irgendwo dazwischen.



Wie viele Tessiner:innen hat auch Tita Mühlemann seinen Heimatkanton mit jungen 19 Jahren für die Deutschschweiz verlassen. Erst für die Arbeit nach Bern, dann für den Bachelor nach Basel und schlussendlich für den Master nach St. Gallen.