Im Biertrinken hat die Schweizer Bevölkerung in diesem Jahr einen Negativrekord aufgestellt. Während die Anzahl Brauereien im Land in den letzten dreissig Jahren explodierte, ist gleichzeitig der Konsum des Gerstensaftes immer weiter gesunken. Bier-Experte Martin Wiesmann glaubt trotzdem, dass die Schweiz auch in Zukunft ein Bier-Land bleibt.
Autor: Mattia Jutzeler
Titelbild: Die grossen Schweizer Brauereien haben lange Werbung in diesem Stil gemacht – vielleicht werden die Plakate aber bald so aussehen. (Quelle: Canva)
Herr und Frau Schweizer haben in diesem Jahr so wenig Bier getrunken wie noch nie. Zum ersten Mal waren es pro Person weniger als 50 Liter, oder noch knapp zwei «Stangen» Bier in der Woche. Diese Zahlen gab der Schweizer Brauerei-Verband Ende November bekannt. Der Verband begründet diesen Negativrekord unter anderem mit dem schlechten Wetter in diesem Jahr. Der Regen im Frühling und der kalte September hätten den Leuten die Trinklaune vermiest.
Der Bierkonsum in der Schweiz sinkt allerdings schon seit Jahrzehnten. Vor dreissig Jahren trank eine Person durchschnittlich über 70 Liter im Jahr. Auffällig: Während der Konsum des Gerstensaftes sank, schoss gleichzeitig die Anzahl Brauereien in der Schweiz regelrecht durch die Decke. Das Bundesamt für Statistik verzeichnete im Jahre 1990 gut 30 aktive Braustätten. Heute gibt es über 1’200 kleinere und grössere Betriebe im ganzen Land, die Bier herstellen und vertreiben. Der Historiker und Bierexperte Martin Wiesmann hält diesen Schweizer Brauereiboom weltweit für einzigartig. «Es ist eigentlich nur vergleichbar mit dem Hype in den USA zur gleichen Zeit. In der Schweiz wurde in den letzten dreissig Jahren in fast jedem Dorf eine Brauerei gegründet», erzählt der Experte.
Zu diesen über 1’200 Schweizer Brauwerken gehört auch die Brauerei St. Laurentius aus Bülach im Zürcher Unterland. Sie wurde 2015 gegründet und behauptet sich seither im umkämpften eidgenössischen Biermarkt.
Aufstieg der Kleinbrauereien
Die Wurzeln dieses lokalen Bier-Booms sieht Wiesmann im Untergang des Schweizer Bierkartells. In diesem Kartell haben die grössten Brauereien der Eidgenossenschaft gemeinsame Sache gemacht und den Biermarkt des Landes unter sich aufgeteilt. Es existierte also kein Konkurrenzkampf. In Zürich wurde nur Hürlimann ausgeschenkt, im Bündnerland nur Calanda und in der Nordwestschweiz nur Feldschlösschen. Einen Unterschied hätte das aber sowieso nicht gemacht, weil alle Biere zur damaligen Zeit laut Wiesmann ohnehin gleich schmeckten. «Das verkaufte Produkt musste absolut identisch sein, um das Kartell zu erhalten», erzählt der Experte. «Sogar die Flaschen waren normiert und die Werbung wurde gemeinsam gemacht.» Das Kartell regierte den Schweizer Biermarkt über fünfzig Jahre lang. 1991 brach es nach mehreren Rechtsstreitigkeiten und einer Revision des Kartellgesetzes zusammen.
Nach dem Zerfall des Kartells schossen die Kleinbrauereien in der Eidgenossenschaft wie Pilze aus dem Boden. Woher genau dieser grosse Hype um das Brauen des Gerstensaftes kam, ist laut Martin Wiesmann immer noch nicht ganz geklärt. Eine Theorie sei der Widerstand gegen die wachsende Globalisierung in der Schweiz. «Nach dem Ende des Bierkartells wurden viele grosse Brauereien in der Schweiz von ausländischen Firmen übernommen», sagt Wiesmann. So gehört etwa Feldschlösschen heute noch dem dänischen Braukonzern Carlsberg. «Die Leute damals waren hässig und wollten wieder mehr Regionalität. Beim Bier konnten sie sich gegen die Globalisierung wehren, indem sie lokales Bier brauten und konsumierten.» Andererseits sei in den 90er Jahren zum ersten Mal bezahlbare Ausrüstung zum Bierbrauen auf den Markt gekommen. «Die Schweiz ist ein reiches Land mit viel Kapital. Bei uns konnten sich leidenschaftliche Bierpioniere austoben, ohne dabei gleich ihre ganze finanzielle Existenz aufs Spiel zu setzen», erklärt der Experte.
Das Lagerbier kriegt Konkurrenz
Mit der steigenden Anzahl Brauereien wuchs auch die Biervielfalt in der Schweiz. Während die neuen Braumeister zu Beginn noch hauptsächlich das typische Schweizer Lagerbier herstellten, experimentierten sie bald mit ausländischen Bierstilen, etwa den würzigen «Tripels» aus Belgien oder den hopfigen «India Pale Ales» aus Grossbritannien. Diese neuen Stile konnten sich zwar mittlerweile in der Schweiz etablieren, sprechen laut Wiesmann aber nach wie vor eine eher kleine Zielgruppe an. «Drei von vier verkauften Bieren in der Schweiz sind immer noch Lagerbiere», erklärt der Experte. Trotzdem wollen sich scheinbar immer mehr Menschen intensiver mit dem Thema Bier beschäftigen. Dies zeigt das wachsende Interesse am Schweizer Biersommelier-Kurs, der jedes Jahr mehrmals von Gastro-Suisse durchgeführt wird. 2023 haben sich laut dem Verband erstmals mehr als 100 Personen zum diplomierten Bier-Experten ausbilden lassen.
Diese Ausbildung hat der 27-jährige Florin Walter aus Winterthur schon absolviert. Vom Schweizer Sommelier-Kurs war er allerdings etwas enttäuscht. Unter anderem, weil einer der Dozierenden selbst gar kein Bier mag, wie er im Portrait erzählt.
Er nimmt sein Bier auseinander – Portrait von Florin Walter
Der 27-Jährige Florin Walter aus Winterthur ist doppelt-diplomierter Biersommelier. Die Liebe zum Bier war für den Studenten aber keine auf den ersten Blick.

Florin Walter nimmt sein Glas Bier vom Tisch und hält es gegen das Licht. Der Inhalt schimmert leicht im dämmrigen Licht des kleinen Cafés «Fahrenheit» in der Winterthurer Altstadt. «Dunkle Bernsteinfarbe, vollkommen klar mit einer schönen, feinporigen Schaumkrone», sagt Walter. Die Kunst, ein einfaches Bier so zu degustieren, hat der 27-Jährige im Biersommelier Kurs gelernt. In diesem Jahr hat er sowohl den Kurs in der Schweiz als auch den in Deutschland absolviert. «Es war insgesamt eine sehr positive Erfahrung», erzählt Walter. Sogar eine historische Premiere habe er miterlebt. «Beim Schweizer Kurs war ich Teil der ersten Gruppe überhaupt, die aus gleich vielen Frauen wie Männern bestand.»
Keine Liebe auf den ersten Blick
Diese grosse Faszination für Bier hat sich bei Walter allerdings erst mit der Zeit entwickelt. «Mein erstes Bier fand ich richtig grusig», meint er. «Das war ein lauwarmes «Quöllfrisch» nach einem Theaterbesuch mit der Gymi-Klasse», erzählt der Winterthurer. «Wir waren damals 15 oder 16 Jahre alt. Ausser mir fanden das alle richtig lecker. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass die alle gelogen haben», erinnert sich Walter mit einem Schmunzeln. Bei seiner Bier-Degustation im Café «Fahrenheit» ist der Sommelier mittlerweile beim nächsten Schritt angekommen. Er hält sich das Glas unter die Nase und riecht am Inhalt. «Hat eine leichte Zitrusnote. Aber auch etwas Harziges, Waldiges», meint er, während er das Bier im Glas leicht schwenkt. Dieses Glas erinnert dabei eher an ein Weinglas als an eine klassische Schweizer «Stange». Es hat einen langen, dünnen Stil und ein bauchiges Gefäss, damit man das Bier besser riechen kann.
Enttäuscht vom Kurs
Je älter der Winterthurer wurde, desto mehr Gefallen fand er am Gerstensaft. Vor vier Jahren dann begann er, als Nebenjob während des Jurastudiums in einem Fachgeschäft für Bier zu arbeiten. «Je mehr verschiedene Bierstile ich probierte, desto mehr wuchs meine Faszination», sagt Walter. Schliesslich meldete er sich zusammen mit einer befreundeten Mitarbeiterin für den einwöchigen Schweizer Biersommelier-Kurs an.
«Wir haben zuerst gelernt, wie man ein Bier richtig degustiert», erzählt Walter. Aber auch das Probieren kam nicht zu kurz. «Von hellen zu dunklen Bieren, Starkbier und fassgelagertem war alles dabei.» Interessant fand Walter, dass auch behandelt wurde, was beim Brauen eines Bieres schieflaufen kann. «Wenn zum Beispiel zu viel Licht ans Bier kommt, ist das schädlich für den Hopfen. Das verändert dann den Geschmack.» Die Teilnehmenden mussten beim Degustieren fehlerhaftes Bier erkennen und aussortieren.
Trotzdem war Walter vom Schweizer Biersommelier-Kurs etwas enttäuscht. «Ein grosser Fokus lag auf dem Präsentieren eines Bieres. Wie man es richtig zapft zum Beispiel. Das hat mich nicht sehr interessiert.» Auch mit den Dozierenden war Walter nicht wirklich zufrieden. «Einer meinte am Schluss zu uns, dass er gar kein Bier mag. Da haben wir uns schon gefragt, was genau der hier macht.» Deshalb hat sich der Winterthurer dazu entschieden, nach dem Schweizer noch den deutschen Sommelier-Kurs anzuhängen.
Deutschland hat die Nase vorne
«Der deutsche Biersommelier-Kurs hat seinem Schweizer Gegenstück noch einiges voraus», meint Walter. Für den Lehrgang reiste der Student letzten Sommer für eine Woche nach München. «Die Dozierenden waren fast alles alte Braumeister. Die konnten auch die schwierigsten Fragen genau beantworten», schwärmt der 27-Jährige. Auch habe sich der Kurs stärker mit dem Brauen eines Bieres an sich beschäftigt. «Wir haben am Ende der Woche sogar unser eigenes Bier gebraut. Das war sehr interessant und lehrreich», erzählt Walter.
Mit seinen zwei Diplomen gehört der 27-Jährige jetzt wahrscheinlich zu den besten Bier-Kennern der Eidgenossenschaft. Mit seinem gesammelten Wissen will Walter aber in Zukunft auch selbst mal ein Bier brauen. «Sobald ich mehr Geld und eine grössere Wohnung habe.» Hoffentlich schmeckt sein selbst gebrautes Bier dann auch so gut wie jenes, das er gerade im «Fahrenheit» degustiert. «Eine angenehme Bittere. Im Abgang kommen dann eine leichte Süsse und blumige Aromen dazu», meint er. Sein Fazit: «Ein gutes Bier. Würde ich wieder bestellen.»
Zukunft des Bieres
Diese wachsende Vielfalt und Expertise kann allerdings nichts daran ändern, dass die Menschen in der Schweiz immer seltener mit einem Bier anstossen. Martin Wiesmann glaubt jedoch nicht, dass diese Entwicklung etwas mit dem Bier an sich zu tun hat. «Die Menschen trinken einfach grundsätzlich weniger Alkohol. Aber das Bier hat nach wie vor einen sehr guten Ruf.» Deshalb ist der Experte überzeugt, dass der Gerstensaft der Schweiz trotz rückläufigem Konsum erhalten bleiben wird. «Der Markt wird sich allerdings verändern. Einige der kleineren Brauereien werden wahrscheinlich nicht ewig überleben», prophezeit Wiesmann. Grosse Teile der Branche hätten hingegen gute Chancen.
Auch die Bedürfnisse der Kundschaft würden sich laut Wiesmann verändern. «Ich denke, in Zukunft werden alkoholfreie Biere eine wesentlich grössere Rolle auf dem Markt spielen als heute.» Die Zahlen des Schweizer Brauerei-Verbandes unterstützen diese Theorie. Der Markt für alkoholfreies Bier ist in diesem Jahr um 16 Prozent gewachsen. Aber auch die gute alte Stange werde Herr und Frau Schweizer höchstwahrscheinlich erhalten bleiben. «Die Leute haben ab und an immer noch gern ein Räuschchen. Daran wird sich nichts ändern.»

Mattia Erio Jutzeler ist Journalismusstudent, geboren und aufgewachsen in Winterthur ZH. Vor dem Studium hat er insgesamt vier Jahre beim Regionalsender „TELE TOP“ als Redaktor und Produzent gearbeitet. Er interessiert sich insbesondere für politische und gesellschaftliche Themen sowie Sport.