Das Konfliktpotenzial rund um den Wolf steigt rasanter als die Wolfspopulation selbst. Im Mittelalter noch das Sinnbild des Bösen, im 20. Jahrhundert etwas Schützenswertes und heute Konfliktpotenzial – doch woher kommt der Ostschweizer Wolf überhaupt und wo geht er hin?
Autorin: Linda Hans
Titelbild: Dieser Wolf streifte im Sommer 2018 im Gebiet des Bündner Fläscherbergs umher – zu welchem Rudel er gehört ist nicht bekannt. (Bildquelle: Amt für Jagd und Fischerei Graubünden)
Gut 350 Jahre ging es, bis der Wolf in der Schweiz gänzlich ausgerottet war. Ursprünglich besiedelte der Wolf fast die gesamte nördliche Hemisphäre. Von den skandinavischen Wäldern bis zur Mittelmeer-Küste war er auf dem ganzen europäischen Festland anzutreffen – bis er den menschlichen Besitztümern zu nahe kam und in Europa fast gänzlich ausgerottet wurde.
Die letzten Wölfe Europas
Die Ausrottung des Wolfes in der Schweiz war grösstenteils bereits im 19. Jahrhundert abgeschlossen. Zwar verirrten sich in den folgenden 100 Jahren einige wenige Einzelwölfe in eidgenössisches Staatsgebiet, wirklich Fuss fassen konnten sie hier aber nicht. Die meisten von ihnen wurden geschossen.
Nicht nur in der Schweiz war der Wolf ausgestorben. Wie die Stiftung Kora in ihrem Bericht «25 Jahre Wolf in der Schweiz – eine Zwischenbilanz» schrieb, war der Wolf 1970 bereits in 14 europäischen Ländern fast bis ganz ausgerottet worden. Jedoch gab es in der Zeit noch kleine, gefährdete Populationen in Süd- und Osteuropa –darunter in Italien, Spanien sowie in der Balkanregion. Bis anhin verfolgte man die Wölfe europaweit, was teils mit staatlichen Prämien belohnt wurde.
In den 1970er- und 1980er-Jahren begann jedoch das grosse Umdenken. Das Bewusstsein für Umweltzerstörung und das Artensterben nahmen stark zu. Durch internationale Schutzabkommen, wie die Berner Konvention von 1979, waren die Wölfe in Europa und der Schweiz erstmals geschützt.
Wolfspopulation startet in der Ostschweiz
Nachdem der Wolf geschützt wurde, durchquerten ab 1994 immer häufiger Einzelwölfe die Schweiz, sagt Sven Buchman, Wildtierbiologe der Stiftung Kora. «Im Oktober 1994 gab es erste Nutztierrisse im Walliser Val Ferret. Damals ging dies stark durch die Medien – man wusste nicht, was für ein Tier die Risse verursacht hatte», so Buchmann. Die ersten Wolfssichtungen begannen im Jahr 1995 – ein Jahr später entstand das erste Foto eines Wolfs. Während Sichtungen von Einzelwölfen in den nächsten Jahren immer weiter zunahmen, konnte man erst 2002 das erste Weibchen nachweisen.
Im Frühling 2012 bildete sich dann das erste Rudel der Schweiz: das Calanda-Rudel. Dieses war im Grenzgebiet vor Chur zwischen den Kantonen Graubünden und St. Gallen unterwegs. Doch woher stammen diese Wölfe? «Unsere heutigen Wölfe in der Schweiz stammen alle aus der italienischen Wolfspopulation. Diese hatten sich in Zentralitalien zurückgezogen.»
Die italienischen Wölfe wanderten von Süden durch Frankreich über den Alpenbogen ins Wallis ein. Von da aus verteilten sie sich in der Schweiz. «Dass die Wölfe unter Schutz gestellt wurden, war ein wichtiger Faktor. Spannend ist jedoch, dass die Wölfe sich schon wieder ausbreiteten, bevor sie geschützt wurden.»
Darum kehrte der Wolf zurück
Auch wenn der Schutz des Wolfes sein Comeback begünstigt hat, gibt es gemäss Buchmann verschiedene Gründe für seine Rückkehr: «Es wurde vieles rückgängig gemacht, was vorher für den Wolf ungünstig war und zu seiner Ausrottung beitrug.»
Ende des 19. Jahrhunderts kam beispielsweise das erste Forstgesetz der Schweiz. Dieses untersagte den Kahlschlag sowie die intensive Nutzung der Wälder, wodurch sich der Wald erholte. Dies bot nicht nur Lebensräume für Wild, sondern auch für den Wolf. Dadurch erholten sich auch die natürlichen Beutetiere des Wolfes, was dessen Nahrungsmittelgrundlage verbesserte.
Ausserdem hatte sich auch die Einstellung der Bevölkerung sowie der Wissenschaft gegenüber Grossraubtieren stark verändert. Die Gesellschaft begann, die Wichtigkeit von Grossraubtieren wie dem Wolf für das Ökosystem zu verstehen. Weiter trug auch die grosse Anpassungsfähigkeit des Wolfes in Bezug auf Lebensräume und Nahrungsmittel zu seiner Rückkehr bei.

«Fernab der Realität »
Auch wenn die Gesellschaft die Wichtigkeit des Wolfes für das Ökosystem anfangs zu verstehen begann, ist man sich mittlerweile nicht mehr so einig. Heute sorgt beispielsweise die neue Jagdverordnung, die im Februar 2025 in Kraft tritt, für Unstimmigkeiten.
Ein Streitpunkt ist der festgelegte Minimalbestand von 12 Wolfsrudeln in der gesamten Schweiz: «Die Zahl ist politisch und nicht wissenschaftlich fundiert», so Buchmann. Studien zufolge wären mindestens 20 Rudel nötig, um die Schweizer Wolfspopulation langfristig zu erhalten.
Auch der präventive Abschuss sowie die Wichtigkeit von Herdenschutzmassnahmen ist umstritten. «Die Verordnung ist viel zu extrem – die Minimalbestände sind fernab der Realität», sagt Armando Lenz, Geschäftsführer von Pro Natura Graubünden. Der Herdenschutz steht für Lenz im Mittelpunkt, Abschüsse seien problematisch, da Studien deren Effektivität infrage stellen würden. «Die Probleme mit dem Wolf sind grösstenteils gelöst, weitere Lockerungen sind unnötig», so Lenz.
Bauernverband fordert Verteidigungsschuss
Mathias Rüesch, Geschäftsführer des St. Galler Bauernverbandes, sieht die Rückkehr des Wolfes als sehr kritisch: «Der Schutz des Wolfes steht über allem – er stellt die Tierhalter und Älplerinnen vor grosse bis unlösbare Probleme.»
Er begrüsst das Bestandsmanagement und den proaktiven Abschuss, fordert jedoch stärkere Massnahmen: «Der Verteidigungsschuss muss erlaubt sein, wenn Wölfe lernen, den Herdenschutz zu umgehen.» Auch sollen schadenstiftende Rudel unabhängig des Bestandsmanagements reguliert werden dürfen, die Mindestbestände seien daher zu überdenken.
Was ist ein Verteidigungsschuss?
Ein Verteidigungsschuss (Tir de Défense) ist ein Abschuss, der zur Verteidigung von Nutztieren oder Menschen zulässig ist, wenn diese unmittelbar bedroht werden. Er ermöglicht es, Tiere zu schützen, bevor ein tatsächlicher Schaden entsteht. Der Verteidigungsschuss kann bereits erfolgen, wenn beispielsweise ein Wolf lernt, Herdenschutzmassnahmen zu umgehen.
Die sehr unterschiedlichen Standpunkte der beiden Lager sind auch dem Wildtierbiologen Sven Buchmann bewusst: «Neben einem gutem Herdenschutz ist auch eine Regulierung der Wolfspopulation wichtig – auch damit sich diese Fronten nicht noch weiter verhärten und am Schluss der Wolf wieder ganz ausgerottet wird.»
Die Ausrottung des Wolfes: Ein weiteres Kapitel der Umweltzerstörung
Bereits seit einigen Jahren ist der Wolf zurück in der Schweiz, nachdem er mehr als ein Jahrhundert verschwunden war. Doch was brachte die Menschen dazu den Wolf aus unseren Wäldern zu vertreiben?
Autorin: Linda Hans
Die Ausrottung des Wolfes nahm bereits im Mittelalter ihre Anfänge und zieht sich bis ins 19. Jahrhundert durch. Als der Mensch noch Sammler und Jäger war und seine ersten Schritte Richtung Ackerbau tat, war seine Meinung vom Wolf noch positiv oder zumindest neutral. Doch als im Mittelalter die Nutztierhaltung extensiviert wurde, begannen die Konflikte zwischen dem Menschen und dem Wolf, wie Tom Michael Etter 1992 in seiner Diplomarbeit an der ETH untersuchte.
Die Landwirtschaft und der Wolfskonflikt
Neben der erhöhten Nutztierhaltung nahm die Jagd immer weiter an Bedeutung zu, und grosse Waldflächen wurden gerodet. Daher nahm der Bestand der natürlich vorkommenden Huftiere wie Hirsch, Reh und Gams immer weiter ab und dadurch die natürlichen Beutetiere des Wolfs. Ihm blieben nur noch die Nutztiere der Bauern übrig – was damals für eine Bauernfamilie bereits ab einem Nutztierriss existenzbedrohend sein konnte.
Auch heute noch bestehen grosse Konflikte zwischen der Landwirtschaft und dem Wolf. Welche Schwierigkeiten der Herdenschutz mit sich bringt und wie die Jagdverordnung aus Sicht des Bündner Bauernverbandes weiter verschärft werden soll, wird im nachfolgenden Audio-Beitrag von Linda Hans erklärt.
Ammenmärchen beeinflussen Wolfsbild
Die Nutztierrisse im Mittelalter begannen, Hass zu schüren. Zusätzlich setzten in dieser Zeit Kriege und Seuchen dem Schweizer Volk zu – in solchen Zeiten vermehrten sich die Wölfe rasanter und wurden zur Landplage. 1377 musste Zürich seine Tore schliessen, da Wölfe tagsüber in die Stadt kamen. Der Wolf frass im Notfall auch Kriegs- oder Seuchenleichen und konnte alleingelassenen Kindern durchaus zum Verhängnis werden. Obwohl Wolfsangriffe auf Menschen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, reine Erfindung sind, nahm die Angst vor dem Wolf immer weiter zu.
Die Bevölkerung erzählte sich Geschichten über Wolfsangriffe auf Menschen – das berühmteste Beispiel dafür ist das Märchen vom Rotkäppchen. Das Bild des bösen Wolfes brannte sich von klein auf in die Gehirne der Menschen ein, auch wenn das meiste davon erfunden war.

Auch übertriebene Ausschmückungen von Wolfsjagden verstärkten die Angst der Bevölkerung. Zusätzlich hatten damals nicht nur die Bevölkerung und die Jäger ein schlechtes Bild vom Wolf, sondern auch die Wissenschaft. Durch falsche Veröffentlichungen brachten sie das Tier noch stärker in Verruf. Das Sinnbild des bösen Wolfes ist entstanden und hat sich in gewissen Aspekten bis zur heutigen Zeit halten können.
Unmenschliche Jagdmethoden
Um den Wolf zu erlegen, war den Menschen jedes Mittel recht: von Wolfsgruben und Treibjagden mit Wolfsnetzen über Selbstschussanlagen bis hin zur Erlegung der Welpen durch Gift. Zur Not erschlug man die Wölfe selbst mit dem Knüppel. Mit der Einführung von Schusswaffen im 15. Jahrhundert wurde die Jagd effizienter, die Wolfsnetze waren nun überflüssig.
Besonders bekannt sind die grossangelegten Treibjagden im 16. bis 18. Jahrhundert. Diese waren nicht nur genaustens organisiert, sondern für die Männer obligatorisch. Kirchenglocken kündigten die Anwesenheit eines Wolfes an, die männliche Bevölkerung musste sich versammeln und auf die Wolfsjagd gehen. Verstösse wurden mit Bussen bestraft.
Obrigkeiten vergaben Schussgeld
Im 18. und 19. Jahrhundert wurde Europa immer dichter besiedelt. Die Jagd nahm für die Bevölkerung an Bedeutung zu. Zusätzlich gab es eine starke Übernutzung der Wälder, da man für die Industrialisierung viel Holz brauchte und Wald darüber hinaus auch als Weidefläche für Nutztiere diente. Diese Faktoren schmälerten den Wildbestand, wodurch der Wolf immer weiter auf Nutztiere ausweichen musste – und deshalb immer hartnäckiger bejagt wurde.
Eine entscheidende Rolle in der Ausrottung des Wolfes spielten auch die Schweizer Behörden und Obrigkeiten. Diese liessen die Wolfsjagd nicht nur zu, sie ordneten sie sogar an und entrichteten Schussgelder. Wie aus der Diplomarbeit von Etter hervorgeht, hätten sich ohne die Prämien zur Wolfserlegung wohl nicht so viele Menschen auf die Jagd gemacht. Daher ist die Rolle von Prämien in der Ausrottungsgeschichte des Wolfes nicht zu unterschätzen. Die Schweizer Obrigkeiten vergaben das Schussgeld bis zur Ausrottung des Wolfes im späten 19. Jahrhundert.
Die Ausrottung des Wolfes ist ein Kapitel der Umweltzerstörung: Der Wolf wurde gejagt, sein Lebensraum zerstört, der Wildbestand übernutzt und der Wald gerodet – all dies vertrieb nicht nur den Wolf, sondern störte das ökologische Gleichgewicht.

Ich studiere im letzten Jahr Kommunikation mit Vertiefung Journalismus an der ZHAW in Winterthur. Während meines Praktikums bei FM1Today konnte ich wertvolle Erfahrungen im Journalismusalltag sammeln, besonders das Schreiben von Berichten und Reportagen hat es mir angetan.