Autor: Lorenz Stöckli
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Gutes Theater bildet die Realität ab. Es vermittelt kleine Stücke der Welt, in der wir alle leben und regt zum Nachdenken an. Gerade Kinder können von solchen Erfahrungen profitieren. Der Theaterfunken hilft Schulen und Theaterschaffende zu vernetzen und fördert das Nachdenken über verschiedene gesellschaftlich relevante Themen.
Menschenmengen strömen vom Bahnhof über die Hauptstrasse zum gegenüberliegenden Gebäude. Auf dem Gebäude steht in roter, geschwungener Neonschrift: Odeon. Es ist das kleine Stadttheater von Brugg im Aargau. Heute, 10 Uhr morgens findet eine Vorstellung statt. Der kleine Eingangsbereich des Theaters füllt sich mit Stimmengewirr und Menschen, die ihre dicken Winterjacken an die Garderobe hängen. An der Wand hängen verschiedene Schilder wie die Ortstafeln der SBB und Plakate von Musik-, Film-, Theater-, Lesungsveranstaltungen. Die alte Filmmaschine in der Ecke neben dem Eingang wird bestaunt, bevor sich die Besucher langsam Richtung Saal begeben.
Chaos im Saal
Im Saal ist es laut und unruhig. Menschen wuseln zwischen Plätzen hin und her und streiten sich, wer neben wem sitzen darf. Die zwei Schauspieler nehmen das Zepter in die Hand und weisen die Plätze zu. «Schön aufschliessen, ganz durchlaufen und keinen Platz frei lassen. Ganz aufschliessen, bitte.», sagt Patrick Slanzi, Schauspieler und künstlerischer Leiter der heutigen Vorstellung. Seine Kollegin Magdalena Neuhaus tut es ihm gleich. Zusammen bringen sie das Chaos unter Kontrolle. So ein Chaos passt so gar nicht in eine normalerweise doch eher ruhige Theateratmosphäre. Doch heute ist es kein normales Theater, wie man es vom Schauspielhaus oder dem Opernhaus kennt, heute ist eine Schulvorstellung.
Theater, nur für Kinder
Insgesamt 6 Klassen besuchen die Vorstellung von «Echo, Echo» in Brugg. Das Team der Theatergruppe Salto&Mortale hat zur Recherche des Stücks mit einer 4. Klasse zusammengearbeitet. Im Zeitalter von Social Media und wachsender Vereinsamung wollte die Gruppe ein Stück entwickeln, das die Frage klärt, wie Kinder Einsamkeit erleben. Aus den vielen Gesprächen mit den Schülern und Schülerinnen hat Autor Béla Rothenbühler zusammen mit Regisseur Damiàn Dlabhoa dann das Stück «Echo, Echo» geschrieben und inszeniert. Patrick Slanzi und Magdalena Neuhaus führen das Stück seitdem mehrfach auf, zusammen mit Musiker Nick Furrer, der zusätzlich zur Musik die Rolle des liebenswürdigen Katers übernimmt und der Theaterpädagogin Nicole Lechmann, die mit ihrem pädagogischen Begleitmaterial den Schulen bei der Vorbereitung hilft.




„Man muss nicht gleich sein, um Freunde zu sein„
In Kooperation mit dem Theaterfunken, einer Unterorganisation von Kultur macht Schule, werden Theaterstücke Schulklassen zugänglich gemacht. Die Themen der Stücke werden sorgfältig ausgewählt und auf verschiedene Altersgruppen zugeschnitten. «Echo, Echo» handelt von einem kleinen Dorf im Berg, dem letzten Dorf am Berg, wie die Bewohner:innen es nennen. Sie leben dort in Frieden und guter Gesellschaft. Weiter oben im Berg lebt der Strahler, ein unumgänglicher, manchmal ein wenig seltsamer Mensch, mit dem die Bewohner:innen des Dorfes nichts zu tun haben wollen. Er symbolisiert den Einsiedler, der in tiefen Höhlen nach Kristallen sucht. Der komische Kauz versucht im Stück die Bewohner:innen vor einem drohenden Unheil zu warnen, doch niemand will auf ihn hören. Das Stück endet damit, dass das ganze Dorf von einem grossen Erdrutsch verschüttet wird. Alle überleben und der Strahler wird dadurch, dass er sie alle gerettet hat, doch noch in die Gemeinschaft des Dorfes aufgenommen. Zuletzt merken die Bewohner:innen, dass Verschiedenartigkeit etwas Gutes für eine Gruppe ist. «Man muss nicht gleich sein, um Freunde zu sein», tönt es im Stück.
Jedes fünfte Kind wird gemobbt
Mitten im Publikum der Aufführung: die Klasse 4G vom Stapfer – Schulhaus in Brugg. Es ist nicht ihre erste Theatervorstellung. «Wir waren schon öfter mit der Schule im Theater», sagt eine Schülerin der Klasse. Für viele Kinder ist eine solche Vorstellung des Theaterfunkens der erste und manchmal auch der einzige Berührungspunkt mit dem Theater.
«Als der Strahler so einsam war, habe ich auch immer
an diese Momente gedacht, als ich einsam war»
Den Themen des Stücks, Einsamkeit, Ausgrenzung, Mobbing und allein sein begegnen sie im Alltag ständig. Die PISA – Studie der Schweiz befragte fast 7000 15-jährige Schülerinnen und Schüler aus 260 Schulen. Jedes 5. Kind gab an, mehrmals im Monat von Mobbing betroffen zu sein. Damit liegt die Schweiz im OECD -Vergleich zwar im normalen Rahmen, viel ist es aber trotzdem. Der Strahler ist ein Sinnbild für diese Kinder. «Als der Strahler so einsam war, habe ich auch immer an diese Momente gedacht, als ich einsam war», sagt ein Schüler der Klasse. Die Anderen stimmen zu.
Vernachlässigte Erkenntnisse
In ein Theater geht man nicht nur zum Spass. Die Einbindung von gesellschaftlich relevanten Themen in Form eines Theaterbesuchs ist ein gutes pädagogisches Mittel, um die Kinder zum Nachdenken und Reflektieren über eigene Erfahrungen oder Handlungen zu bewegen. « Nicht ausschliessen», «Nett sein zu anderen», «Den Leuten zuhören, auch wenn man sie nicht mag», sind die Erkenntnisse der Kinder, nach dem Theaterbesuch. Diese Auseinandersetzung ist fundamental. Im Lehrplan 21 des Kanton Aargaus werden als Grundsätze verschiedene Aspekte dieser Thematik festgehalten. Die konkrete Umsetzung im Unterricht fehlt jedoch oft. Erstaunlich selten wird die rassistische Diskriminierung als Unterrichtsthema aufgegriffen, sagt das ERG in ihrem Bericht. Das Nachdenken darüber, wie die Welt beschaffen ist, ist zentral für die Entwicklung von Kindern. Schulvorstellungen von Theaterschaffenden behandeln Thematiken, die die Kinder direkt in Ihrer Lebenswelt betreffen und aus denen sie direkte Erkenntnisse mitnehmen können.
Der Lehrplan 21 benennt verschiedene Kompetenzen, die in der Schule gefördert werden sollen. Sowohl beim Theaterspielen, wie auch beim Theaterbesuch können die Schüler:innen enorm viele Kompetenzen mitnehmen, vorausgesetzt die Vor- und Nachbereitung der Lehrpersonen ist umfassend.
- Sie setzen sich mit unterschiedlichen Sachtexten, literarischen Texten und vielfältigen Kulturerzeugnissen auseinander.
- Mit der Sprache erwerben die Schülerinnen und Schüler ein grundlegendes Instrument der Wissens- und Kulturaneignung, des Austauschs und der Reflexion in allen Fachbereichen.
- Sie lernen, über sich selbst nachzudenken […]
- Die Schüler:innen können eigene Gefühle wahrnehmen und situationsangemessen ausdrücken.
- Die Schüler:innen können sich eigener Meinungen und Überzeugungen (z.B. zu Geschlechterrollen) bewusst werden und diese mitteilen.
- Die Schüler:innen können sich in die Lage einer anderen Person versetzen und sich darüber klar werden, was diese Person denkt und fühlt.
- Sie setzen sich mit Literatur, Musik und bildender Kunst aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen auseinander und erkennen Besonderheiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede.
(Quelle: Lehrplan21)
Kompetenzen
im
Lehrplan
Kindern auf Augenhöhe begegnen

(Foto: Ramón Königshausen)
Patrick Slanzi ist Schauspieler und künstlerischer Leiter der Theatergruppe “Salto&Mortale”, die seit über 20 Jahren Kindertheater inszeniert. Das letzte Werk, das er mit auf die Bühne brachte, heisst “Echo, Echo”. Zudem ist er tätig in einem freien Kollektiv in Zürich, der “groupe nous”. Nebenbei ist er auch noch Sprecher und freier Schauspieler in Theater und Film. Im Interview erzählt er uns über seine Arbeit.
Gibt es einen Unterschied, ob man vor jungem oder altem Publikum spielt?
Ganz grundsätzlich nicht. Man hat seine Figur, die man spielt und man muss den Text transportieren. Natürlich muss man ein wenig Vorsichtiger sein, was man so rausposaunt. Wenn es Unterschiede gibt, dann im Entstehungsprozess, also in der Themensuche und bei der Verständlichkeit. Bei Erwachsenen ist man freier. Man kann machen, was man selbst als berechtigt empfindet. Ob es die Leute dann annehmen oder nicht, bleibt ihnen überlassen.
Welche Rolle spielt Humor im Kindertheater? Kann man auch ernste Theater für Kinder machen?
Ernsthaftigkeit entsteht dadurch, dass man sich ernsthaft mit einer Thematik auseinandersetzt. Ich glaube aber, dass wir Menschen generell viel besser auf ernsthafte Themen anspringen, wenn wir sie auf eine humoristische Art verhandeln. So kann auch aus etwas Tragischem, etwas sehr Schönes und Humoristisches entstehen. Darum finde ich Humor im Theater zentral. Ich glaube, es ist auch einfacher etwas zu verstehen, gerade wenn es traurig oder tragisch ist, wenn man es mit Humor erzählen kann. Speziell im Kindertheater muss man jedoch vorsichtig sein, dass man nicht einfach alles verulkt, da sonst das ganze Theater zu einer „Giggelishow“ wird.
“Echo Echo” wurde auch öffentlich aufgeführt, wie war diese Erfahrung?
Natürlich waren die öffentlichen Vorstellungen vor allem für Familien mit Kindern gedacht. Es gab aber auch der eine oder andere Erwachsene, der das Stück schauen kam. Für mich war das sehr interessant. Wenn man ein Stück kreieren kann, das sowohl Kinder als auch Erwachsene toll finden, dann hat man es geschafft, den Kindern auf Augenhöhe zu begegnen, ohne sich über sie zu stellen. Wenn das klappt, ist das etwas sehr schönes. Das ist für mich zentral im Kindertheater.
Wie inszeniert man ein Stück speziell für Kinder?
Was sicher sehr wichtig ist, ist, dass man immer wieder Kinder drauf schauen lässt. Man muss immer wieder prüfen: verstehen sie es? kommen Sie mit? Interessieren Sie das? Beim Theater für Erwachsene muss man das nicht. Man kann nach seinem eigenen Gutdünken ein Stück entwickeln nach dem Prinzip “Take it or leave it”.
Wie war das bei “Echo, Echo”
Im Prozess für “Echo, Echo” hatten wir die Idee ein Stück über Einsamkeit im digitalen Raum zu machen, konnten uns aber nicht anmassen zu wissen, wie die Kinder das erleben. Zu diesem Zweck sind wir eine Woche in eine Schulklasse gegangen, um dieses Thema mit den Kindern zu vertiefen. Wir haben dann jedoch gemerkt, dass dieses Thema für die Kinder gar nicht relevant ist. Dann sind wir aber im Gespräch auf andere Themen gekommen. Für die Kinder hatte das Thema Einsamkeit viel mehr mit allein sein zu tun. Uns ist dann auch aufgefallen, dass viele Kinder die “coolen Kids” nachgemacht haben. Durch das kamen wir dann auch auf die Idee, im Stück die Diversität in Gruppen als etwas Positives darzustellen. Aus allen diesen Ideen von dieser Woche hat dann Béla Rothenbühler einen Text geschrieben, den Damiàn Dlaboha dann inszeniert hat.
Wünschst du dir als Schauspieler, dass die Kinder das Theater verstehen, gerade auch die versteckten Dinge?
Als allererstes ist es toll, wenn man den Kindern ein Erlebnis geben kann. Wenn die Kinder nach dem Besuch sagen können, dass es cool war, dass es schön war, dass sie gerne hier waren und wieder einmal ein Theater besuchen möchten. Ich glaube, wenn das gegeben ist, ist für mich schon alles erreicht, was erstrebenswert ist. Wenn man zu sehr einen Bildungsauftrag verfolgt, dann läuft man Gefahr, dass man dort mit dem erhobenen Zeigefinger steht und ihnen vorschreibt, was sie zu denken haben.
Der Theaterfunken, eine Institution von Kultur macht Schule
Kultur macht Schule ist eine Institution der Abteilung Bildung, Kultur und Sport des Kanton Aargaus. Die Institution ermöglicht jährlich rund 90 Tausend Schülerinnen und Schülern die Teilhabe an Kultur und künstlerischer Praxis. Es hilft bei der Vernetzung von Theaterschaffenden und Bildungsbeauftragten, stellt finanzielle Mittel zur Verfügung und berät Bildungsinstitutionen. Das grosse Netzwerk in Kultur und Bildung ermöglicht es, dass Kultur und Kunst zu einem festen Bestandteil der Bildung werden und fördert die Begegnung von Kunstschaffenden und Schulen.
Mit dem “Theaterfunken”, einer Abteilung der Organisation Kultur macht Schule, vernetzt man Schulen mit Theaterschaffenden und bietet an insgesamt 10 lokalen Theaterinstitution bis zu 15 stufengerechte Inszenierungen. Die Inszenierungen werden unter anderem ausschliesslich, aber auch in Form von öffentlichen Vorstellungen aufgeführt und sind eigens für verschiedene Altersstufen zugeschnitten. Zusätzlich bietet die Organisation pädagogisches Begleitmaterial und eine Weiterbildungsveranstaltung in Form eines “Roten Teppichs”.
(Quelle: ag.ch)

Zu viel Schule verdirbt das Theater
Manfred Stenz ist studierter Theaterpädagoge und Fachlehrer in einer Oberstufe im Aargau. Dort erarbeitet er seit über 20 Jahren Theaterstücke mit Kindern und besucht regelmässig die Schulvorstellungen des Theaterfunkens. Theater ist ein Teil der Schulischen Bildung, der oft zu kurz kommt. Nirgends kann man soziale Kompetenzen, Kreativität und Zusammenarbeit so fördern, wie im Theater.
Lorenz Stöckli berichtet.

„Wahrheit ist ein derart schwieriges Problem, dass die meisten in ihr keines sehen.“ Dieses Zitat von Dürrenmatt begleitet mich in meinem Journalistik-Studium an der ZHAW in Winterthur. Nun schon bald im letzten Semester finde ich immer noch Leidenschaft an Geschichten, am Schreiben, dem Erzählen, dem Lesen, und vor allem an der Wahrheit.

„Wahrheit ist ein derart schwieriges Problem, dass die meisten in ihr keines sehen.“ Dieses Zitat von Dürrenmatt begleitet mich in meinem Journalistik-Studium an der ZHAW in Winterthur. Nun schon bald im letzten Semester finde ich immer noch Leidenschaft an Geschichten, am Schreiben, dem Erzählen, dem Lesen, und vor allem an der Wahrheit.