Schon in den 70er Jahren trieb die prekäre Wohnungssituation in Zürich eine Gruppe von Visionären dazu an, eine neue Form des Zusammenlebens abseits der Städte zu realisieren. So wurde das links-grüne Projekt der Wohnbaugenossenschaft «Auf dem Höli» im ländlichen Scherz (AG) ins Leben gerufen. Dieses Jahr feierten die Bewohner:innen das 50-jährige Jubiläum.
Autor: Mattia Vogel
Titelbild: Die Hölianer beim gemeinsamen Mittagessen auf der Terrasse; Bild: Wohnbaugenossenschaft Auf dem Höli; Fotograf:in: unbekannt
Die Hölisiedlung liegt friedlich eingebettet in die Aargauer Hügellandschaft über dem Dorf Scherz. Kinder spielen Unihockey zwischen den Reihenhäusern, und in den Gärten fallen die letzten Blätter. Einige Erwachsene rechen gemeinsam das Laub zusammen. Eine Frau kommt aus einem der Reihenhäuser und ruft ihre Kinder zum Zvieri. Was heute wie eine eingespielte Gemeinschaft wirkt, war vor 50 Jahren ein links-grünes Projekt, das nur mit Hartnäckigkeit und Überzeugungskraft in der konservativ-SVP-lastigen Dorfgemeinschaft umgesetzt werden konnte. Eines dieser grauen Sandkalksteinhäuser gehört Jacqueline Fosco-Oppenheim. Sie ist Architektin, genau wie ihr Mann Benno Fosco. Zusammen mit dem Branchenkollegen Klaus Vogt hatten sie damals die Idee für das Projekt. Am Esstisch in ihrem Haus gibt sie Anekdoten zu den Anfängen der Hölisiedlung preis.
Aufbruchstimmung in der Stadt Zürich
Sie erinnert sich noch gut an die Zeit. „Ein Kind war unterwegs und Benno und ich waren von der kinderunfreundlichen Wohnungspolitik der Stadt Zürich dazu getrieben, uns nach einer neuen Wohnung umzusehen. Zürich hat die damals schon raren Wohnflächen vornehmlich zum Bau von Gewerbeflächen vergeben“, erzählt Fosco-Oppenheim. Ein Einfamilienhaus in Einsamkeit irgendwo auf dem Land wäre für sie aber niemals eine Option gewesen, betont sie weiter. Das Architektenpaar tat sich mit dem Branchenkollegen Klaus Vogt zusammen und arbeitet einen ganz anderen Plan aus.
Am 5. Oktober 1972 erschienen die Vorboten der Hölisiedlung beim Gemeinderat in Scherz. Benno Fosco und Klaus Vogt machten an diesem Donnerstagnachmittag mit Modellen und Plänen für sechs Zwei- bis Dreifamilienhäuser ihre Aufwartung. Die Siedlung «Auf dem Höli» sollte Wohnraum für 16 Familien mit noch mehr Kindern bieten. Mit diesem Zuwachs hätte die Bevölkerung von Scherz um 15 Prozent zugenommen, die Zahl der Schulkinder sogar um 30 Prozent. Ein Quantensprung für das 450-Seelendorf.

Die Vision war geprägt von sozialistischen Ideen der 68er-Bewegung, darunter: Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit gemischt mit einem Hauch von Selbstversorgung. Liest man sich in die Dokumente des Gemeindearchivs aus dieser Zeit ein, erkennt man: Der Weg zur Baubewilligung war steinig: Finanzierungsprobleme und bürokratische Hürden, sowie ideologische Differenzen verlangten den Gründer:innen viel ab. Sie blieben jedoch hartnäckig. 1973 erhielt das Trio die Baubewilligung. Der erste Spatenstich erfolgte im März des darauffolgenden Jahres und schon 1975 bezogen laut Fosco-Oppenheim die ersten Familien ihr neues Zuhause.
Anfängliche Skepsis im Dorf
Die Bewohner:innen des Hölis, die schon von Anfang an dabei waren, wissen noch genau, wie die Stimmung im Dorf damals war. Im Dorf Scherz begegnete man ihnen mit grosser Skepsis. Gerüchte machten die Runde. Die Alteingesessenen nannten sie die «Hölianer», als ob sie zu einem fremdartigen Stamm gehörten, mit seltsamen Sitten und Gebräuchen, den bunten, weiten Kleidern, der unkonventionellen Lebensart und den lauten Festen. Erst durch die aktive Teilnahme am Dorfleben gelang den «Hölianern» die Integration.

Politisches Engagement der Hölianer im Dorf
Beruhend auf demokratischen Entscheiden engagierten sich die Genossenschafter:innen an gemeinsamen Projekten, die nicht nur die Hölisiedlung, sondern das ganze Dorf betrafen. Ein erstes dieser Projekte war der eigens organisierte und anfangs privat geführte Kindergarten der Siedlung. Später wurde dieser von der Gemeinde übernommen. Dies stärkte sowohl den Zusammenhalt in der Hölisiedlung als auch die Integration ihrer Bewohner im Dorf. Zudem beteiligten sich die Hölianer aktiv am Gemeindeleben. Sie traten in die Feuerwehr ein und übernahmen politische Mandate.
Ein unmissverständliches Indiz für das gute Funktionieren der Zusammenarbeit zwischen den Dorfbewohnern und den Hölianern stellte der Widerstand gegen die A3-Autobahn Zürich-Basel nach 1975 dar. Die Planung sah vor, dass die Strasse sehr nah an Scherz vorbeiführen sollte.
Die links-grünen Bewohner der Hölisiedlung taten sich mit den eher konservativen Dörflern, vor allem den Bauern, zusammen. Gemeinsam sammelten sie Unterschriften, reichten formelle Einsprachen gegen die Strassenführung ein und betrieben Öffentlichkeitsarbeit. Um den Widerstand zusätzlich zu stärken, arbeitete man Hand in Hand mit anderen Gemeinden und Naturschutzorganisationen zusammen. Am Ende war es der koordinierte Widerstand und das Engagement der Initiant:innen, das dazu führte, die ursprüngliche Planung der Autobahn zu ändern. Der Habsburgtunnel verlängerte man um rund 400 Meter Richtung Osten und auf den Rastplatz beim Heuhof in Scherz wurde ganz verzichtet – ein politischer Grosserfolg. Das Projekt zeigte, wie erfolgreich gemeinschaftliches Handeln über ideologische Gräben hinweg sein kann.

Rohbau mit einem persönlichen Touch
Nicht nur die Lebensweise, auch die Architektur der Hölisiedlung war ungewohnt. «Grosszügig das Lebensgefühl, spartanisch die Machart», lautete das Motto des Architektentrios. Das schreibt Fosco-Oppenheim in einem Artikel für «werk, bauen + wohnen» 2014. Einheitliche Fassaden aus Kalksandstein verleihen der Siedlung noch heute ein karges, aber harmonisches Äusseres. Auch im Innern herrschen unverputztes Kalksandsteinmauerwerk und rohe Betonböden vor. «Bewohnbarer Rohbau» nennt Fosco-Oppenheim das Prinzip dahinter. Mit der minimalistischen Bauweise wollte man den späteren Bewohner:innen viel Individualität gewährleisten. Zudem konnte man so die Kaufpreise der Häuser für die meist jungen Familien tief halten. Es war möglich, je nach Wunsch und natürlich nach Absprache mit den Nachbarn, einen Raum dazu zunehmen oder wegzugeben. «Dafür braucht man lediglich einen Vorschlaghammer oder ein paar Ziegel, um einen Durchgang durch die Mauern zu schaffen oder zu schliessen», sagt Fosco-Oppenheim und lacht dabei. Laut ihr hat man den Nutzen davon unterschätzt. «Die Freiheit, die Raumaufteilung quasi frei wählen zu können, wurde grosszügig ausgenutzt. Über die Jahre entstanden unzählige Varianten», erläutert Fosco-Oppenheim.
«Grosszügig das Lebensgefühl, spartanisch die Machart»
– Jacqueline Fosco-Oppenheim

Die Häuser der Siedlung sind also nach aussen hin einheitlich gestaltet, was den Gemeinschaftsgedanken unterstreicht. Innen haben die Eigentümer:innen grosse Freiheiten, was wiederum die Individualität betont. So ist die Lebensweise der Hölianer in der Architektur ihrer Häuser wiederzuerkennen: Gemeinschaftlichkeit und Individualität.
Ganz im Zeichen der 68er-Bewegung sichert die Rechtsform der Hölisiedlung als Genossenschaft Gleichberechtigung. Bei gemeinsamen Entschieden haben alle eine Stimme, unabhängig von der Grösse ihres Hauses. So verhandeln sie demokratisch über wichtige Fragen wie Bauvorhaben, finanzielle Regelungen oder die Organisation von Gemeinschaftsaktivitäten.
50 Jahre später: Noch immer ein Modell mit Zukunft
Die Hölianer haben es geschafft, die Überalterung durch die Aufnahme junger Familien zu verhindern. Trotz vieler Renovationen und Ausbauten blieb das Antlitz der Siedlung dasselbe. Dank entsprechender Regeln ist der Ensemblecharakter geschützt. Mit Kinderlachen zwischen den Häusern, einer lebendigen Gemeinschaft und einem grossen Fest blickten die «Hölianer» in diesem Sommer auf eine 50 Jahre alte Geschichte zurück.
Gemeinschaft durch innovative Architektur
Das Höli in Scherz (AG) ist ein visionäres Beispiel dafür, wie Architektur und Gemeinschaft verknüpft werden können. Wie genau ein Gleichgewicht zwischen Privatsphäre und einem gemeinsamen Zusammenleben gefunden werden kann, erklärt die Architektin Jacqueline Fosco-Oppenheim im folgenden Video-Beitrag.
Das Höli aus unterschiedlichen Perspektiven
In den 1970er Jahren, während dem die Hölisiedlung noch in ihren Anfängen stand, zogen Hansueli Dürsteler und Ruedi Martin nach Scherz. Ruedi Martin ist in eines der Reihenhäuser auf dem Höli eingezogen – aus ihm wurde ein Hölianer. Später engagierte er sich in der Gemeinde als Gemeinderat. Hansueli Dürsteler zog in den Rüchlig, ein Teil am anderen Ende des Dorfes. Er wurde Gemeindeschreiber. Heute schauen sie zurück auf die Zeit, in der das Höli und das Dorf trotz anfänglicher Skepsis zueinandergefunden haben.


Die Geschichte der Hölisiedlung zeigt also, dass Offenheit, Austausch und Zusammenarbeit Brücken über Gräben bauen können, die grösser nicht sein könnten. So wie jede gute Beziehung erforderte also auch diese zwischen den Dörfern und den Hölianern bis heute von beiden Seiten viel Mühe und Hingabe.

Ich studiere derzeit Kommunikation an der ZHAW im Departement für angewandte Linguistik. Das Ziel des Studiums ist es, später beim Radio oder noch besser, beim Fernsehen zu arbeiten.