Christian Aegerter ist einer von fünf Richter:innen, die im Kanton Zürich noch als Laien dieses juristische Amt ausführen dürfen. Das Laienrichteramt ist seit 2016 per Volksentscheid zum Aussterben verurteilt. Zu tun gibt es für Aegerter aber nach wie vor mehr als genug – die Überlastung des Justizsystems wird auch am Bezirksgericht Bülach deutlich spürbar.
Autor: Tiago Gysel
Titelbild: Ab 2025 wird Christian Aegerter der letzte Laienrichter sein, der in den Hallen des Bezirksgerichts in Bülach wandeln durfte.
Einem Mann wird vorgeworfen, über mehrere Jahre mit grossen Mengen von Kokain gehandelt zu haben. Zusätzlich wird ihm der illegale Besitz einer Schusswaffe sowie Urkundenfälschung vorgeworfen. Mit angelegten Handschellen und in Begleitung zweier Polizisten wird der Angeklagte am Bezirksgericht Bülach in den Gerichtssaal geführt. Seine Chancen stünden schlecht, die Beweislage sei erdrückend, tauschen sich Staatsanwalt und Verteidiger auf dem Gang aus. «Heute hängt es nur noch von der Tagesform der Richter ab, wie hoch das Strafmass ausfallen wird», meint der zuständige Verteidiger nüchtern. Im Gerichtssaal warten drei Richter darauf, die Verhandlung beginnen zu können. Einer von ihnen ist Christian Aegerter. Er trägt einen Anzug und hat vor sich seine Unterlagen ausgebreitet. Seine Miene ist ernst und seine Gedanken schwer zu entziffern.
Die Arbeit am Gericht ist nur ein Teil des Arbeitsalltags von Aegerter. Der Zürcher Unterländer war schon lange vor seiner Aufnahme ins Beamtentum als Landwirt tätig und bewirtschaftet dort rund 25 Hektar Land. Neben Getreide, Urdinkel und Sonnenblumen baut er auch Mais und Gerste für Tierfutter an. Die andere Hälfte seiner Arbeitszeit fliesst in die Tätigkeit als Laienrichter. Davon sind im Kanton Zürich nur noch wenige übrig.
Nachdem 2016 per Volksabstimmung entschieden wurde, dieses traditionsreiche Amt abzuschaffen, wurde den amtierenden Richter:innen gewährt, ihren Besitzstand zu halten. Das heisst, dass gewählte Beamte durch eine stille Wahl weiter in ihrem Amt bleiben dürfen. Seit 2015 steht Christian Aegerter beim Bezirksgericht in Bülach im Amt und behandelt dort vor allem Fälle im Familienrecht, wo er zum Beispiel über Scheidungen oder Beistandschaften entscheidet. In Strafverfahren, wo es um Drogenhandel und sonstige Verbrechen geht, agiert Aegerter als Beisitzender Richter eines Dreigespanns.
Das Leben in zwei Welten
Im Sommer kommt Christian Aegerter regelmässig an seine Grenzen, weil auf den Feldern dann der grösste Aufwand anfällt. Jetzt, nach Einbruch des Winters, kann er die anstehenden Aufgaben besser einteilen. Die Felder sind bestellt, die Geräte eingewintert. Lediglich Aufgaben wie das Spalten von Brennholz für den heimischen Ofen stehen noch an. Somit wird mehr Kapazität frei, sich in die Aufgaben am Bezirksgericht einzudenken. Dort läuft der Alltag im selben Tempo wie immer weiter.
Schweizer Justiz vor dem Kollaps
Seit vier Jahren steigen die Zahlen der offenen Gerichtsfälle in der Schweiz kontinuierlich an. Die Gründe dafür sind vielseitig. Laut Christian Aegerter ist besonders die Komplexität der einzelnen Fälle gestiegen, wodurch sich die Bearbeitungsdauer signifikant verlängert. Gemäss Tagesanzeiger befindet sich das Schweizer Justizsystem kurz vor dem Kollaps.

Noch bleibt Christian Aegerter dem Bezirksgericht Bülach aber erhalten. Seine aktuelle Amtszeit dauert noch zwei Jahre. Danach will sich der 59-jährige 2026 zu seiner letzten Wiederwahl aufstellen lassen. Das Höchstalter für Laienrichter:innen wurde vor einigen Jahren auf das Alter von 68 Jahren festgelegt. Christian Aegerter plant, bei einer geglückten Wiederwahl noch bis zu seinem Pensionsalter weiterzumachen, um dann vor Ende der Amtsperiode zurückzutreten. «Ich habe keine Angst, dass es mir nach meiner Amtszeit langweilig werden würde», meint Aegerter. Nachdem die zweite Laienrichterin am Bezirksgericht Bülach im kommenden Jahr das Höchstalter erreicht hat, wird Christian Aegerter tatsächlich zum letzten Laienrichter an diesem Gericht.
Der Landwirt erinnert sich gut daran, wie er im Abstimmungskampf mit seinen damals über 15 Kolleg:innen versucht hatte, das Ruder nochmals herumzureissen. «Die Meinungen waren zu diesem Zeitpunkt aber bereits gemacht», sagt Aegerter. Die Abstimmung zur Abschaffung des Laienrichteramts fiel 2016 tatsächlich deutlich aus. 66 Prozent der Zürcher Bevölkerung sprachen sich laut SRF News damals für die Abschaffung aus. Der Kanton Zürich war zu jenem Zeitpunkt der einzige, der Menschen ohne juristische Ausbildung als Einzelrichter:innen einsetzte.
Laienrichter:innen entscheiden nicht unbegründet
So scheiden seit acht Jahren immer mehr Laienrichter:innen aus ihren Ämtern. Dabei treffen diese ihre Entscheidungen längst nicht nur aufgrund ihres Bauchgefühls. Das Obergericht Zürich veranstaltet regelmässige Weiterbildungen für alle, die in der Justiz tätig sind. Zusätzlich trifft sich der Verein KNVB der verbleibenden nichtvollamtlichen Laienrichter:innen in der Schweiz jährlich, um mit einer zweitägigen Schulung auf dem neuesten juristischen Stand zu bleiben.
Christian Aegerter ist froh, dass er erst in seiner zweiten Lebenshälfte in dieses Amt kam: «Ohne meine persönlichen Lebenserfahrungen und beruflichen Karriereschritten wäre ich nicht bereit dafür gewesen, eine solche Verantwortung wahrzunehmen.» Diese komme ihm bei seiner Tätigkeit als Laienrichter regelmässig zugute. Neben seiner Arbeit als Landwirt war Aegerter auch viele Jahre als Prozessmanager bei der Luftfracht am Flughafen Zürich tätig.

Verhandlungen in der Öffentlichkeit
Obwohl das Justizsystem in der Schweiz überlastet ist, sehen noch immer die wenigsten Bürger:innen einen Gerichtssaal von innen. Gemeinsam mit Christian Aegerter lernen wir, welche Akteure in einer Gerichtsverhandlung vor Ort sind und wie diese überhaupt abläuft.
Hauptverhandlungssaal im Bezirksgericht Bülach;
Bild: Tiago Gysel
Der Ursprung des Laienrichteramts lässt sich im 19. Jahrhundert finden. In der damaligen Zeit der Aufklärung wehrte sich das Bürgertum gegen die Obrigkeit, wie die NZZ zum Zeitpunkt der Abstimmung im Frühsommer 2016 schrieb. Aus diesem Grund wurden bewusst Menschen an den Gerichten eingesetzt, die keine juristische Ausbildung genossen hatten. Man vertraute den Vertretern der oberen Klassen zu wenig, als dass sie sich tatsächlich mit den Bedürfnissen des Proletariats auseinandersetzen würden. Diese demokratische Errungenschaft bedeutet dem Volk in der heutigen Staatsform zu wenig, um diese Tradition weiterzutragen. Die Richter:innen, die jetzt noch im Amt sind, könne Aegerter mittlerweile an einer Hand abzählen.
Während 45 Minuten bespricht sich das Dreigespann der Richter mit Christian Aegerter über das Urteil zum angeklagten Kokaindealer. Auf dem Gang macht sich eine leicht angespannte Stimmung breit. «Wenn diese Beratungen länger dauern als geplant, ist das meist ein gutes Zeichen für die Verteidigung», begründet der Strafverteidiger diese Wartezeit bis zur Urteilsverkündung. Die Entscheidung fällt allerdings klar aus. Nachdem der Angeklagte seine Haftstrafe von über fünfeinhalb Jahren abgesessen hat, wird er für acht Jahre des Landes verwiesen. Ein Entscheid, der schwere Folgen mit sich bringt. Für Christian Aegerter gehört das zum Alltag. Zumindest bis dann, wenn auch der letzte Laienrichter sich aus dem Bezirksgericht Bülach verabschieden muss.

Tiago Gysel studiert Kommunikation und Medien an der ZHAW und arbeitet seit Studiumsbeginn für Campus für Christus in der Organisationskommunikation. Seine journalistische Leidenschaft für das Storytelling lebt er in Projekten mit seinen Freunden aus dem Kollektiv Fingerbeeri aus. Tiago glaubt von ganzem Herzen daran, dass jeder Mensch eine Geschichte in sich trägt, die es wert ist, erzählt zu werden.