«Bittet, so wird euch gegeben.» Dieses jahrtausendealte Prinzip aus der Bibel verbreitet sich neuerdings auf Social Media. Dort geht es aber nicht um den Glauben an Gott, sondern um Wünsche an das Universum. Mithilfe des sogenannten Manifestierens hat Eliane ihren perfekten Partner gefunden. Die Kirche findet diese neue Glaubensform zu egoistisch.
Autorin: Alexandra Inniger
Titelbild: Ein Ausschnitt aus Elianes Tagebuch, in dem sie sich positive Glaubenssätze notiert hat; Bildquelle: Alexandra Inniger
Unsere Gedanken schaffen unsere Realität. Wer das glaubt, wird selig – im wahrsten Sinne des Wortes. Ob ein volles Portemonnaie, ein neues Auto oder ein harmonisches Familienleben, alles könne man sich direkt beim Universum bestellen. Man brauche nur darum zu bitten.
Das Gesetz der Anziehung besagt: Gleiches zieht Gleiches an. Wenn wir also positiv denken, wird uns Positives widerfahren. So lautet das Versprechen von spirituellen Gurus und selbsternannten Hohepriesterinnen, die auf TikTok Anleitungen zum korrekten Manifestieren geben:
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@cannycrystals Let’s manifest together 🥰🖤 Let me know what your biggest goal is! #manifest #manifesting #manifestation #intentions #goals #spiritual ♬ original sound – Mindset Zone
Gemäss Duden bedeutet manifestieren: sich als etwas Bestimmtes offenbaren. In esoterischen Kreisen ist damit die bewusste Beeinflussung der eigenen Zukunft durch positive Glaubenssätze gemeint. Eine der beliebtesten Manifestationsmethoden ist es, sich einen Wunsch wiederholt aufzuschreiben. Also beispielsweise: «Ich finde einen liebenswerten Partner.» Dieser Glaubenssatz wird dann verinnerlicht und gleichzeitig als Forderung an den Kosmos ausgesendet.
Der Placebo-Effekt des Universums
Was ist ein Placebo?
Ein Placebo ist ein Scheinmedikament ohne Wirkstoff, das trotzdem schmerzlindernd sein kann. Der Glaube an die Wirksamkeit unterstützt nachweislich den Heilungsprozess. Dieses Phänomen nennt man Placebo-Effekt.
Der Religionswissenschaftler und Psychotherapeut Sebastian Murken beschreibt Glaubenssätze im Interview als innere Muster, die durch Gedanken und Erlebnisse geformt werden. Sie sind tief im Unterbewusstsein verankert und steuern von dort aus unser Verhalten. Wir sind diesen Verhaltensmustern aber nicht hilflos ausgeliefert, sondern können negative mit positiven überschreiben und so unseren Lebensweg aktiver steuern.
«Wenn wir ein inneres Bild davon entwickeln, wo wir hinwollen, ist es tatsächlich wahrscheinlicher, dass wir unsere Ziele erreichen.»
Manifestieren hat für Murken daher mehr mit Psychologie als mit Spiritualität zu tun. Jede Form der positiven Erwartungshaltung unterstütze das Eintreffen dieser Erwartung, das beweise der Placebo-Effekt. «Das Medikament ist lediglich ein Medium, über das die Erwartung transportiert wird – genauso wie bei Manifestationen das Medium ein wohlwollendes Universum ist.»
Trotzdem sieht Murken darin auch einen religiösen Aspekt. In der westlichen Gesellschaft nimmt der traditionelle Gottesglaube zwar immer mehr ab, die Suche nach einem Transzendenzbezug ist und bleibt jedoch ein zentraler Bestandteil unserer Psyche. Damit versuchen wir, uns Unerklärliches zu erklären – wie die Erfüllung eines Wunsches auf scheinbar wundersame Weise.
129 Tagebucheinträge bis zum Traumpartner
Um einen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen, sollten wir ihn also vorher genau visualisieren. Zumindest bei Eliane hat das funktioniert. Rund vier Monate lang hat die 55-Jährige jeden Abend manifestiert. Dazu hat sie in ihrem Tagebuch alle gewünschten Eigenschaften ihres zukünftigen Partners aufgelistet. Nach 129 Wiederholungen ist Yves in ihr Leben getreten und hat all ihre Erwartungen erfüllt. Die beiden sind seit vier Jahren glücklich zusammen und Eliane ist überzeugt:
«Das Universum hat uns zusammengeführt!»
Seit diesem Erlebnis hat sich ihr Glaube stark verändert. Aufgewachsen ist sie in der «Gemeinde für Christus» (damals noch «Evangelischer Brüderverein»), in der nur das Beten zu Gott erlaubt war. Eliane hat diese Freikirche zwar schon vor langer Zeit verlassen, ihre strengreligiöse Vergangenheit beeinflusst ihr Leben aber bis heute. Im Audiobeitrag erzählt die Bernerin ihre aussergewöhnliche Geschichte.
Sowohl beim Beten wie auch beim Manifestieren bringt man seine Wünsche bei einer höheren Macht an und hofft auf deren Erfüllung. Ein entscheidender Unterschied dieser beiden Praktiken ist aber deren Forderungscharakter.
Beim Manifestieren stellt sich der Mensch ins Zentrum des Universums, an das er seine Forderungen stellt. Er wird sein eigener Gott und entscheidet darüber, was er für ein gutes Leben braucht. Paradoxerweise fokussiert man sich beim Glauben an den unendlichen Kosmos hauptsächlich auf sich und seine eigene kleine Welt. Der Religionspsychologe Sebastian Murken warnt deshalb vor einer zu egoistischen Herangehensweise.
Bittet, so wird euch gegeben?
Im Gegensatz zum Manifestationsglauben ist im Christentum Gott der entscheidende Bittsteller. Alle Zehn Gebote der Heiligen Schrift starten mit den Worten: «Du sollst.» Darin wird von den Menschen beispielsweise verlangt, nicht zu töten und keine anderen Götter zu haben. Bevor man sich im Gebet also etwas wünscht, sollte man sich ehrenwert benehmen. Dem stimmt auch Murken zu:
«Der Schöpfer erwartet von seinen Schöpflingen immer ein gewisses Verhalten, damit das von ihnen Gewünschte eintrifft.»
Die Bibel stellt aber nicht nur Forderungen auf. Im Matthäusevangelium steht einer der wohl bekanntesten Verse überhaupt: «Bittet, so wird euch gegeben.» Ruhm und Geld gehören zu den beliebtesten Bitten beim Manifestieren. Dürfen wir uns also auch von Gott eine erfolgreiche Karriere und übermässigen Reichtum wünschen?
Grundsätzlich sind uns im Gebet keine Grenzen gesetzt. Hochmut und Habgier sind jedoch zwei der Sieben Todsünden, die im Katholizismus als besonders schwere Vergehen gelten, weil sie von Gott ablenken. Der Theologe Jean-Pierre Sitzler steht dem Manifestieren daher kritisch gegenüber.
«Gott ist nicht der Nikolaus, dem ich einfach einen netten Spruch vortragen kann»
Beim Manifestieren wenden sich die Menschen mit ihren Anliegen an den Kosmos. Jean-Pierre Sitzler vertraut dagegen auf Gott. Im Interview setzt sich der Leiter der Erwachsenenbildung der Katholischen Landeskirche Thurgau mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zum traditionellen Gebet auseinander.

Bildunterschrift: Jean-Pierre Sitzler vor der Sankt-Johannes-Kirche in Weinfelden (TG); Bildquelle: Alexandra Inniger
Jean-Pierre Sitzler, Manifestieren wird auf Social Media immer beliebter. Kann man diese Praxis mit dem Beten vergleichen?
Da gibt es einige Verbindungslinien. Die Menschen brauchen immer etwas, woran sie sich festhalten können. Dazu eignet sich sowohl der Glaube an das Universum als auch der Glaube an einen Gott. Zudem gibt es bei beiden Praktiken Extreme – entweder gibt man alle Verantwortung an eine übernatürliche Kraft ab oder man bestimmt alles selbst.
Nehmen die Menschen beim Manifestieren ihr Glück eher selbst in die Hand, wohingegen sie die Verantwortung beim Beten an Gott abgeben?
Nicht unbedingt. Es gibt zwar Gläubige, die der Ansicht sind, wenn es ihnen schlecht geht, müssten sie nur mehr beten. Das mag helfen, aber meist stösst der Glaube dort an seine Grenzen. Der Unterschied ist eher die Frage, ob ich rein menschliche Ziele verfolge oder mich Gott zuwende. In der Religion spielt zudem die Gemeinschaft eine wichtige Rolle.
Der Glaube schenkt also mehr Halt als eigennütziges Wünschen?
Das kommt auf die Art der Wünsche an. Wenn es nur darum geht, reich zu werden oder immer zuoberst auf der Siegertreppe zu stehen, ist das meiner Meinung nach wenig sinnstiftend. Aber auch beim Manifestieren ist ein spiritueller Zugang möglich, indem ich das Universum als göttliche Energie betrachte und versuche, ihr näherzukommen. Ich finde es aber schwierig, mich an einen unendlichen Kosmos zu wenden – Wo ist da mein Gegenüber? Im Christentum habe ich einen Gott vor mir, der Mensch geworden ist und folglich um das Menschliche weiss.
Weshalb wenden sich dann immer mehr Menschen dem Universum zu, aber von Gott und der Kirche ab?
Dahinter steckt die Sehnsucht nach einer höheren Macht und die Suche nach einem allumfassenden Sinn. Religionswissenschaftlich betrachtet sind dies die Ursprünge aller Glaubensrichtungen. Heutzutage kehren verständlicherweise viele Menschen der Kirche den Rücken, aufgrund der Skandale und des Wissenschaftsoptimismus. Dann bleibt diese Sehnsucht aber unerfüllt.
«Der Glaube an das Universum ist ein alternativer Versuch, Anteil am Göttlichen zu nehmen.»
Würden Sie das Manifestieren empfehlen?
Ich will es sicherlich niemandem verbieten. Man sollte sich zuvor aber zwei Fragen stellen: Was entspricht mir? Und was ist menschenwürdig? So verleiht man dieser Praxis eine spirituelle Note. Dreht sich nämlich alles nur um Selbstoptimierung, stosse ich einerseits als Mensch an meine körperlichen und psychischen Grenzen. Andererseits gehe ich im Extremfall über Leichen, um meine Ziele zu erreichen. In den Religionen gibt es für diesen Fall ein Korrektiv – Die Mitmenschen werden mitbedacht. Das bremst zwar vermutlich auf der eigenen Zielgeraden, hilft aber der Gesellschaft als Ganzes.
Und worauf sollte man beim Beten achten?
Als Kinder lernen wir Gebete wie das Vaterunser als Orientierungshilfe auswendig. Es geht aber nicht nur darum, etwas aufzusagen – wie beim Manifestieren.
«Gott ist nicht der Nikolaus, dem ich einfach einen netten Spruch vortragen kann.»
Im Gebet geht es vielmehr darum, mit dem Schöpfer in eine Beziehung zu treten und zuzuhören. Auch wenn keine Stimme zu mir spricht, kann ich versuchen, darauf zu hören, was sich in mir regt und mich im Innersten berührt. Darin manifestiere ich mich.
Beten leitet sich aus dem althochdeutschen gibet ab und bedeutet ursprünglich bitten. Auch wenn das Bitten aus theologischer Sicht nicht der Hauptfokus der menschlichen Gottesbeziehung sein sollte, zeigt die Wortbedeutung dessen Wichtigkeit im Gebet auf. Daher behauptet der Religionspyschologe Sebastian Murken:
«Jede Form des Betens ist auch eine Form der Manifestation.»
Ob wir nun religiös, spirituell oder atheistisch sind – Wir manifestieren alle ein bisschen, weil wir nie wunschlos glücklich sind. Jeder von uns hat Hoffnungen und Träume und stellt sich seine ideale Zukunft vor. Wir können uns frei entscheiden, ob wir bei der Suche nach unserem Traumpartner auf uns selbst, das Universum oder Gott vertrauen. Aber vielleicht ist die wichtigste Entscheidung, ob wir beim Wünschen nur an unser eigenes Glück denken oder auch an das unserer Mitmenschen.

Alexandra Inniger studiert im dritten Jahr Kommunikation mit dem Schwerpunkt Journalismus an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Winterthur. Sie sitzt aber nicht nur in Vorlesungssälen, sondern war auch schon als rasende Reporterin für TeleBärn unterwegs und verabreichte den Lesenden von nau.ch ihre tägliche Dosis News. Als geborene Geschichtenerzählerin kann sie sich für fast alle Ressorts begeistern – ausser für Sportberichterstattung.